Die EU-Präsidentschaft Frankreichs

Eine politikwissenschaftliche Analyse des französischen Ratsvorsitzes im 2. Halbjahr 2000

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Dialer, Doris
2004, Peter Lang, ISBN10: 3631510233

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Rezension / Compte rendu:
Rückblick auf Frankreichs Ratspräsidentschaft vor Nizza

Der Europäische Rat, in dem sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten versammeln, gibt die strategischen Leitlinien für die Entwicklung der EU vor. Ursprünglich war für die Präsidentschaft - außer dem formalen Vorsitz und der Einberufung von Treffen - jedoch kein institutionelles Design vorgesehen. Mit zunehmender Integrationsdichte und Ausweitung der Europäischen Gemeinschaft wurde vermehrt auf die Präsidentschaft in den Bereichen zurückgegriffen, die in den Verträgen nicht klar geregelt waren. So hat sich im Laufe der Jahre eine "Sprecherfunktion" (S. 26) der Ratspräsidentschaft entwickelt, die immer wichtiger für das Agenda-Setting europäischer Politik wurde.
Die Analyse von Institutionen, Akteuren und Entscheidungsprozessen in unterschiedlichen Politikfeldern gehört zum Kerngeschäft der Politikwissenschaft. Das kann innerhalb eines bestimmten Zeitraumes geschehen, muss aber nicht. Einen äußerst spannenden Zeitraum hat sich die Autorin vorgenommen, nämlich die sechs Monate, in denen Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft innehatte, an deren Ende mit dem Gipfel in Nizza die wichtigen Fragen der institutionellen Zukunft der EU geregelt werden sollten.
Wir erinnern uns: Die so genannten "left-overs" von Amsterdam - die Stimmengewichtung im Rat, die Ausweitung des qualifizierten Mehrheitsentscheids sowie die Zusammensetzung und Organisation der Kommission - sollten Kerngegenstand der Vertragsreform sein. Beflügelt wurde die trockene Institutionendebatte durch die Humboldt-Rede von Joschka Fischer am 12. Mai 2000, die das ebenso trockene Wort der "Finalität" in den europäischen Diskurs einführte. Für die allgemeine Frage, welches Europa es denn sein soll, hatte die Rede katalytische Wirkung. Chiracs Antwort in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Juni 2000 inszenierte den Beginn der französischen Ratspräsidentschaft. Das Ende des Untersuchungszeitraumes legt die Autorin jedoch auf den Juni 2002 - unter Einschluss des Post-Nizza-Prozesses, der aber nur fünf der knapp 100 Seiten einnimmt.
Es handelt sich, so das Vorwort, um eine "analytisch-empirische Studie", welche die "zentralen Herausforderungen der EU-Präsidentschaft eingehend behandelt" (S. 5). Bedauerlich - jedoch für Abschlussarbeiten nicht untypisch - ist, dass eine eigentliche Fragestellung nicht entwickelt wird, weil der Zeitrahmen schlicht dazu verführt, im Deskriptiven zu verbleiben: "eine chronologische Darstellung vergangener sowie bestehender politischer Wirklichkeit [wird] angestrebt" (S. 14). Bedauerlich ist zum zweiten - und wieder für Abschlussarbeiten nicht untypisch -, dass die einzelnen Kapitel nebeneinander präsentiert werden, ohne dass einsichtig wäre, wieso sie aufeinander folgen. Nach Kapitel eins mit dem (fragwürdigen) Titel "Die EU-Präsidentschaft - ein Organ der EU?" folgt das politische System Frankreichs (wozu?), dem sich ein Kapitel zu "Frankreich im europäischen Kräfteverhältnis" anschließt, worin sich allerlei Unzusammenhängendes wiederfindet: die deutsch-französische Achse, die französische Europadebatte, die verstärkte Zusammenarbeit.
Anders formuliert: Hier wurde eine Chance vertan, denn mancherorts werden wichtige Fragen aufgeworfen, die jedoch angesichts der anspruchsvolleren Operationalisierung nicht weiter verfolgt werden. Zwei Beispiele: "Lassen sich objektive Beurteilungskriterien dafür finden, ob eine Präsidentschaft erfolgreich war?" (S. 13). Es müssen nicht unbedingt Erfolgskriterien sein, die angelegt werden. Grundlegender wäre es, zunächst Kriterien zur Analyse einer Institution (der EU-Ratspräsidentschaft) zu entwickeln, um sodann die Auswirkung der Verhandlungsführung auf die Politikergebnisse in den Blick zu nehmen. Die Rolle der Kohabitation im europapolitischen Entscheidungsprozess wird mit dem treffenden Hinweis erwähnt, dass "die innenpolitische Konstellation der Kohabitation für die schwache Verhandlungsführung während des sechsmonatigen Vorsitzes ausschlaggebend [war]" (S. 51). Man hofft an dieser Stelle auf eine analytische Verknüpfung zwischen dem Spielraum der doppelköpfigen Exekutive auf nationaler Ebene und der policy-Agenda auf europäischer Ebene. Stattdessen folgt einhistorischer Abriss zum deutsch-französischen Motor.
Im verbleibenden Drittel werden die Herausforderungen des französischen Vorsitzes geschildert - Institutionenreform, Wertegemeinschaft und Grundrechtecharta sowie die bilateralen Maßnahmen der EU-14 gegen Österreich. Hier informiert das Buch über die Europapolitik im Jahr 2000. Aber das, was den durch den Titel suggerierten Untersuchungsgegenstand signifikant ausmachen soll - die französische Ratspräsidentschaft -, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Bei alledem ist es unverständlich, warum sich wirklich Wichtiges in den Fußnoten findet: sei es die Definition des Untersuchungsgegenstandes (S. 25, Anm. 31), die in einen konzeptionellen Teil oder wenigstens in den Haupttext gehört, oder zum eigentlichen Thema gehörende Fragen, die ein Kapitel der Arbeit hätten bilden können: "Interessant ist, wie sehr der Nizza-Gipfel durch die vorgezogene Europa-Debatte beeinflusst wurde" (S. 58, Anm. 126). Interessant ist, dass immer wieder Abschlussarbeiten zur Publikation empfohlen werden.
Wolfram Vogel

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Die EU-Präsidentschaft Frankreichs