Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945-1963-2003

Pariser Historische Studien, Band 71

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Defrance, Corine; Pfeil, Ulrich (Hg.)
2005, Oldenburg, ISBN10: 348657678X

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Rezension / Compte rendu:
Langzeitwirkung trotz Fehlstart - Wirkung des Élysée-Vertrags

Der im Januar 2003 gefeierte 40. Jahrestag des Élysée-Vertrages bot nicht nur Anlass für Feierlichkeiten, sondern forderte auch die Historiker auf, Bilanz zu ziehen und neue Perspektiven für die deutsch-französischen Beziehungen zu erwägen. Der vorliegende Band geht auf eine in der Sorbonne und am deutschen Historischen Institut Paris im Januar 2003 organisierte Konferenz zurück. In diesem von Corine Defrance und Ulrich Pfeil herausgegebenen Sammelband stellen Experten der deutsch-französischen Beziehungen aus beiden Ländern auf der Grundlage neu zugänglicher Archivfunde eine Übersicht der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und kulturellen Aspekte der deutsch-französischen Beziehungen vor und versuchen dabei den Stellenwert des Élysée-Vertrages im deutsch-französischen Verhältnis zu bestimmen. Das Buch gliedert sich in insgesamt vier Hauptblöcke. Ein Schlussbeitrag von Außenminister a.D. Hans-Dietrich Genscher rundet den Band ab.
Nach einem kurzen gemeinsamen Vorwort von Claudie Haigneré, der damaligen französischen Europaministerin und Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit, und Peter Müller, dem deutschen Bevollmächtigten für kulturelle Angelegenheiten mit Frankreich, versuchen die beiden Herausgeber in einer richtungsweisenden Einleitung den Élysée-Vertrag zwischen Zäsur und Kontinuität zu verordnen und dabei seine historische Bedeutung für die deutsch-französische Aussöhnung herauszufinden. Methodisch plädieren sie für eine "skeptische Distanz und historisierende Herangehensweise" (S. 37).
Im ersten Teil wird die Entstehungsgeschichte des Vertrages aus der nationalen Perspektive rekonstruiert. Statt den gesamten Entstehungsvorgang zu schildern, konzentrieren sich sowohl Hans-Peter Schwarz als auch Jacques Bariety, die jeweils den deutschen beziehungsweise französischen Weg zum Élysée-Vertrag darstellen, auf einzelne wesentliche Punkte. Wenn Schwarz sich auf "den Gesamtvorgang in einer etwas umfassenden Perspektive" konzentriert, wobei er "einige kritische Punkte ansprechen will" (S. 49), heißt es bei Bariety, "in einem zeitlich und räumlich größeren Kontext [...] einige Feststellungen über die Umstände und Bedingungen [zu] machen, unter denen sich die Angelegenheit vollzogen hat" (S. 62). Beide Historiker heben das schon vorher oft festgestellte Paradox der erstaunlichen Langzeitwirkung des Vertrags und seines peinlichen Fehlstarts hervor. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen steht die Frage, wie aus dem "einfachen" Protokoll, das ursprünglich vorgesehen war, ein ratifikationsbedürftiger Vertrag wurde. Einen individuelleren Einblick in den Entstehungsprozess liefert Henri Ménudier, der sich der veröffentlichten Aufzeichnungen von Alain Peyrefitte bedient, um die Einstellung Charles de Gaulles zum Nachbarn östlich des Rheins und zum Vertrag um das Jahr 1962-63 nachvollziehbar zu machen.
Die drei Beiträge des zweiten Teils widmen sich den im Vertragstext festgeschriebenen Konsultationsbereichen. Ulrich Lappenküper, der die auswärtigen Angelegenheiten von Adenauer bis Kohl untersucht, geht insbesondere der Frage nach, in welchem Maße das vom Vertrag formulierte Ziel einer "gleichgerichteten Haltung" in den auswärtigen Beziehungen erreicht wurde. An Gründen für ihr Fehlen, zumindest bis zur Ära Mitterrand-Kohl, nennt er zum einen die fundamentale Ambivalenz der Zwecke, die beide Staaten mit dem Vertrag verbanden (S. 102), zum anderen die über Regierungswechsel hinweg weiter bestehenden außen- beziehungsweise europapolitischen Auffassungsunterschiede. Florence Gauzy zieht eine kritische, aber nuancierte Bilanz der deutsch-französischen Militärkooperation seit 1963. Obwohl der Élysée-Vertrag der bilateralen Zusammenarbeit in militärischen und Rüstungsfragen eine programmatische Dimension und eine institutionelle Grundlage verlieh, geriet sie schnell in eine "politisch-stragische Sackgasse" (S. 139). Auch wenn Gauzy den Akzent auf das Scheitern der Harmonisierung bei den strategischen Doktrinen legt, so konnten jedoch ihrer Meinung nach sekundäre Erfolge erzielt werden, die "einen dauerhaften Effekt auf die militärische Praxis beider Länder" hatten (S. 141). Nach einigen einleitenden Bemerkungen über die Rahmenbedingungen der deutsch-französischen auswärtigen Kulturpolitik fällt Ansbert Baumanns Urteil über den deutsch-französischen Kultur- und Jugendaustausch nüchtern aus. Er stellt fest, dass die Bedeutung des Vertrages in diesem Bereich eher auf seinen indirekten Einfluss zurückzuführen sei, da er dazu beitrug, die deutsch-französischen Beziehungen zu "popularisieren" und "in einer langfristigen Perspektive das Verhältnis beider Völker zueinander positiv zu beeinflussen" (S. 166). Alles in allem heben alle drei Autoren die Diskrepanz zwischen den von den Vertragsvätern anvisierten, zum Teil sehr ambitionierten Zielen und ihrer konkreten Realisierung hervor.
Der dritte Teil gilt den vom Élysée-Vertrag nicht geregelten Bereichen. Der Hauptgrund für die Abwesenheit der Wirtschaft im Vertragstext sieht Andreas Wilkens in den früheren Auseinandersetzungen um die Fouchet-Pläne Anfang der 1960er Jahre. Auf Grund der Erfahrung des Fouchet-Plans stimmten offensichtlich Deutsche und Franzosen damals überein, dass dieser Gegenstand der Gemeinschaft vorbehalten bleiben sollte (S. 179). Anschließend an diesen Beitrag stellt Werner Bührer Formen, Ziele und Einfluss wirtschaftlicher Akteure der deutsch-französischen Zusammenarbeit dar, wobei der zeitliche Schwerpunkt zwischen 1945 und 1963 liegt. Das Fehlen substanzieller wirtschaftlicher Bestimmungen im Élysée-Vertrag erklärt er vor allem damit, dass die bilaterale Zusammenarbeit in diesem Bereich bereits so gut funktionierte, dass zusätzliche vertragliche Vereinbarungen überflüssig erschienen (S. 195).
Um das erstaunliche Fehlen der Kultur, der gerade in Frankreich einen hohen Stellenwert beigemessen wird, zu erklären, prüft Corine Defrance die bilaterale kulturelle Zusammenarbeit vor und nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrages. Dabei hebt sie die "auseinander gehenden Zielsetzungen der deutschen und französischen auswärtigen Politik" hervor (S. 201). Wilkens und Defrance machen jedoch klar, dass sowohl die Wirtschaft als auch die Kultur, obwohl nicht explizit erwähnt, nicht ganz aus dem Vertrag verdrängt und indirekt behandelt waren.
Hans Manfred Bock und Ulrich Pfeil untersuchen Funktionen und Aufgaben der kulturellen und gesellschaftlichen Akteure der deutsch-französischen Zusammenarbeit. Beide Autoren verweisen auf die langsame, aber zielstrebige Entwicklung eines zivilgesellschaftlichen Kommunikationsnetzes, das eine "Luftveränderung" in den beiden Gesellschaften bewirkt habe (S. 226). Die Hauptwirkung des Élysée-Vertrages sehen sie in der Schaffung des institutionellen Rahmens, der dieser zivilgesellschaftlichen Kooperation die Chance gab, sich zu verbreitern und zu vertiefen.
Im letzten Block wird das deutsch-französische Verhältnis rückblickend beurteilt. Robert Frank wirft einen erfrischenden Blick auf den Élysée-Vertrag, den er im Sinne Pierre Noras als Erinnerungsort betrachtet und dessen "Mystifizierung" er chronologisch untersucht. Ihn treibt die Frage nach dem Platz des Vertrags in der Erinnerung der Franzosen und Deutschen an beziehungsweise, ob er "ein symbolisches Element des Erinnerungserbes" einer deutsch-französischen Gemeinschaft darstellt (S. 238). Aus seinen Überlegungen folgert Frank, dass der Vertrag durchaus Symbole produziert hat, die den Aufbau einer deutsch-französischen Gemeinschaft emotional unterlegt haben (S. 247). Colette Mazucelli fragt sich in ihrem Beitrag, inwiefern der Élysée-Vertrag als Dreh- und Angelpunkt der deutsch-französischen Beziehungen fungierte und sieht vor allem darin ein Element der Kontinuität und einen wesentlichen Eckpfeiler der Beziehungen zwischen beiden Staaten und Gesellschaften.
Wie es bei solchen Sammelbänden üblich und sogar quasi unvermeidlich ist, lassen sich Wiederholungen nicht ganz vermeiden, die jedoch die Qualität der einzelnen Beiträge nicht beeinträchtigen. Dieser Band bietet einen umfassenden, lesenswerten Überblick über Bedeutung und Wirkung des Élysée-Vertrages in Bezug auf die deutsch-französischen Beziehungen. Dabei wird besonders deutlich, dass der Vertrag keineswegs der Ausgangspunkt der deutsch-französischen Zusammenarbeit war, sondern sich in einen langsamen, stetigen und dynamischen Annäherungsprozess eingliederte. Das manchmal kritische Urteil der Autoren bekräftigt aber das Paradox des Vertrags nur noch, dass er trotz all seiner Misserfolge in der Tat ein Erfolg bleibt.
Carine Germond

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Der Élysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945-1963-2003