Frankreich Jahrbuch 2004

Reformpolitik in Frankreich

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Albertin, Lothar et al. (Hg.)
2005, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage, ISBN10: 3531145401

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Rezension / Compte rendu:
Das "modèle français" unter Reformdruck

Angesichts der weitgehenden thematischen Übereinstimmung deutscher und französischer Reformagenden sind die Analysen des Jahrbuchs zu den Gründen für die Notwendigkeit von Erneuerungen, zu den sich ihnen in den Weg stellenden Hindernissen sowie zu Erfolgen wie Misserfolgen der französischen Politik für den deutschen Leser von besonderem Interesse. Nicht, dass sich Einsichten in die Verhältnisse des Nachbarlandes unmittelbar auf Deutschland übertragen ließen, aber die Probleme, mit denen es Gesellschaft und Politik in beiden Ländern zu tun haben, gehen doch auf weitgehend vergleichbare Entwicklungen zurück. Diesseits wie jenseits des Rheins ist das von Politikern immer noch gerne auch für den Rest der Welt als vorbildlich beschworene Sozialmodell unter dem Druck von Europäisierung und Globalisierung brüchig geworden, und der Nationalstaat kann nicht mehr leisten, was er früher unter anderen Voraussetzungen geleistet hat. Diese Einsichten aber sind bei den staatsfixierten Bevölkerungen noch nicht angekommen, weshalb auch die Politik entsprechend vorsichtig agiert. So ist es kaum erstaunlich, dass der ehemalige französische Premierminister Jean-Pierre Raffarin in seiner 2004 in Berlin gehaltenen Rede, die hier in deutscher Sprache wiedergegeben ist, nicht nur wenig Analytisches - das kann man bei Politerkerreden vielleicht ohnehin nicht erwarten -, sondern auch wenig Greifbares zu konkreten Reformmaßnahmen beisteuert. Immerhin räumt er ein, dass die großen Länder Europas in ihren Reformbemühungen hinter den kleinen Ländern weit hinterher hinken. Aber wie Frankreich etwa mit der Investitionsbremse namens Staatsverschuldung und Defizit fertig werden will, erfährt man nicht. Dafür lernt man, dass "der Stabilitätspakt" "dem Nutzen der Reformen besser Rechnung tragen" müsse (S. 27), ohne dass gesagt würde, was hier mit "Reformen" und "Rechnung tragen" gemeint ist.
Umso informativer ist die Einleitung von Henrik Uterwedde, der hier unter anderem die Reformpolitik in eine historische Perspektive rückt und die aktuellen Bemühungen um eine Neudefinition von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in die Tradition des sozioökonomischen Paradigmenwechsels seit 1983 stellt. Man kann, so Uterwedde, die Entwicklung seither als einen Prozess der schleichenden Liberalisierung lesen, die jedoch nie ihren Namen sagen durfte, weil man sonst eine Wählerschaft verprellt hätte, die von den großen Parteien gegen alles Liberale als angelsächsisches Teufelszeug eingeschworen worden ist.
Alistair Cole erläutert den Veränderungsdruck, dem sich Frankreich insgesamt ausgesetzt sieht, vor allem auch in seinem staatlichen Selbstverständnis, und er kommt dabei zu dem Schluss: "Europäisierung und Globalisierung laufen der 'certaine idée de la France' im Grunde zuwider ..., wenn Europa erst einmal ein Schmelztiegel europäischer kultureller Einflüsse geworden ist, anstatt ein Spiegel zu sein, der die französische Grandeur reflektiert ..." (S. 39). Gleichwohl habe Frankreich beachtliche Anpassungsleistungen erbracht, und zwar je nach Sektor in unterschiedlicher Weise. Während man sich etwa im makroökonomischen Management an den globalen Bedingungen orientiert habe, seien die Anpassungen im Bildungsbereich ganz im Sinne der nationalen Traditionen vorgenommen worden.
Vivien A. Schmidt gelangt über eine Analyse der Ansätze und Auswirkungen unterschiedlicher sozialpolitischer Strategien ("liberal", "unterstützend", "helfend") zur Bestimmung von Faktoren, die speziell für die Reformzwänge und -fähigkeiten Frankreichs in Ansatz zu bringen sind. Wie die Franzosen zu solchen Reformzwängen stehen, eruiert sodann Pierre Bréchon, wobei er zu dem nicht unerwarteten Ergebnis kommt, dass sich in Frankreich liberale Reformvorstellungen auf widersprüchliche Weise mit einer entschlossenen Verteidigung sozialer Besitzstände verbinden. Man wisse zwar um die tiefe Kluft zwischen wünschbaren und machbaren Reformen, aber könne sie nicht überbrücken.
Das ist nicht zuletzt auch eine Herausforderung für die Linksparteien, die sich, so Zaiki Laïdi, nicht nur in Frankreich der Frage stellen müssen, wie sie den unvermeidlichen Wandel anders als über den Staat und unter Einbeziehung der globalen Dimension definieren wollen.In den weiteren Beiträgen zum Schwerpunktthema stellt Christoph Egle der früheren sozialistischen Regierung unter Lionel Jospin ein überraschend schlechtes Zeugnis aus; Florence Gauzy-Krieger erklärt die positiven Entwicklungen, die sich mit der französischen Militärreform (unter anderem Abschaffung der Wehrpflicht, Professionalisierung der Armee usw.) ergeben haben; Stefan Geifes schildert für den Bereich der Forschungspolitik unter anderem die Diskrepanz zwischen offizieller Rhetorik und politischer Praxis und Mechthild Veil schließlich erläutert Raffarins Rentenreform. Bei dieser Reform wurde, anders als in Deutschland, konsequent am Umlagesystem festgehalten und jeder Gedanke an eine auch kapitalgedeckte Alterssicherung tabuisiert, mit der Folge, dass das Renteneintrittsalter heraufgesetzt und die Rentenansprüche abgesenkt werden mussten. (Das wird in Deutschland ebenfalls und trotz Riester-Rente gemacht.)
Insgesamt geben die Beiträge zum Schwerpunktthema Einblicke in eine Fülle französischer Besonderheiten, aber auch in sehr viele Gemeinsamkeiten mit Deutschland. Zugleich werfen sie viele anregende Fragen auf, die, so wäre zu hoffen, zusammen mit den geschilderten französischen Einsichten dann auch die deutschen Debatten beleben werden. Abgerundet wird das auch dieses Mal wieder überaus lesenswerte Jahrbuch durch Beiträge von Roland Höhne (Europawahlen in Frankreich 2004 - eine europäische Ausnahme?), Sebastian Nix (Französischer Auslandsrundfunk) und Elfi Bendikat (Stadtraum und Ethnokultur in Paris und Marseille). Die letztgenannte, sehr dichte und gründlich recherchierte Studie gewinnt durch die aktuellen Ereignisse in einigen französischen Vorstädten eine zusätzliche Aktualität.
Wie üblich folgen am Ende des Buches die Chronik (2004-2005) sowie verschiedene Übersichten, so zur sozioökonomischen Entwicklung, zu Wahlergebnissen sowie zu deutschsprachigen Neuerscheinungen über Frankreich und die deutsch-französischen Beziehungen. Alles in allem: Wieder ein Jahrbuch, das jeder Frankreichforscher sich nicht nur in den Bücherschrank stellen, sondern durcharbeiten sollte.
Johannes Thomas

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Frankreich Jahrbuch 2004