La matrice de la race: Généalogie sexuelle et coloniale de la nation française

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Dorlin, Elsa
2006, Editions La Découverte, ISBN10: 2707159050

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Rezension / Compte rendu:
Geschlecht, Rasse und Kolonialismus

Nach dem Abschluss ihrer Dissertation (2004) stellt Elsa Dorlin, Dozentin für Philosophie an der Universität Paris I mit den Forschungsschwerpunkten Rassismus, Wissenschaftsgeschichte und feministische Theorien, in vorliegendem Band eine "Généalogie sexuelle et coloniale de la nation française" vor, die die Editions de La Découverte in der Reihe "Genre et Sexualité" herausgebracht haben. Die Studie wirft ein neues Licht auf die politische Bedeutung sexueller und rassistischer Unterwerfung, indem sie den Zusammenhang zwischen diskriminierender Geschlechterkonzeption und imperialistischer Politik herausstellt: Letztere sollte die kolonialen Eroberungen mit dem Konstrukt einer rassistischen Ideologie legitimieren, um sowohl die Überlegenheit der weißen Rasse als auch die des Mannes über die Frau zu rechtfertigen.
Die Geschichte der Beziehungen zwischen Männern und Frauen, Kolonisatoren und Kolonisierten, beruft sich auf medizinische, physiologische und anatomische Kausalfaktoren, um die Frauen und die Kolonisierten zu ihrer besseren Ausbeutung in der Position der Unterdrückten halten zu können. In beiden Fällen findet die politische Aktion ihre Begründung in der Verbreitung pseudo-wissenschaftlicher Konzepte, die es ihr ermöglicht, eine macht- und nicht vernunftdiktierte Rangordnung der Ungleichheit festzuschreiben. Insbesondere eine ebenso populäre wie diskriminierende, auf Aristoteles und Galenus zurückgehende medizinische Theorie sollte bis ins klassische Jahrhundert hinein für die Unterdrückung und Abwertung der Frauen instrumentalisiert werden. Das Textkorpus der 'Querelle des Femmes', diese im 16. und zu Anfang des 17. Jahrhunderts um sich greifende Debatte, in der die Gegner des 'sexe' - wie damals die Frauen üblicherweise bezeichnet wurden - auf deren Anwälte trafen, ist reich an Bezügen auf eine immer wieder in Anspruch genommene, von Elsa Dorlin in den Mittelpunkt ihrer Argumentation gestellte medizinische Theorie: den Zusammenhang zwischen Temperament und Säftelehre.
Nach Auffassung der antiken Medizin macht die humorale Säftelehre den in den Körpern angelegten sexuellen Unterschied verständlich; die damit verbundenen Kategorien 'gesund' beziehungsweise 'ungesund' funktionieren dabei wie Machtparadigmen. Der Körper setzt sich aus mehreren Säften zusammen (kalten, warmen, feuchten und trockenen), die im Zustand vollkommenen Gleichgewichts für Gesundheit bürgen, während die Verschiebung dieses Gleichgewichts Krankheit auslöst. So ermöglicht es die humorale Theorie, die Individuen unter verschiedenen Charaktertypen zusammenzufassen, die aus einer rein materialistischen Warte die Veranlagungen (sanguinisch, cholerisch, melancholisch und phlegmatisch) bestimmen. Im 12. Jahrhundert wird die Einordnung der Temperamente in vier Typen durch die Philosophia von Guillaume de Conches systematisiert, derzufolge das Diktum "Caldissima mulier frigidior est frigidissimo viro" gilt ("Die wärmste Frau ist kälter als der kälteste Mann"). Innerhalb dieser "medizinischen Semiologie", die eine anthropologische Differenzierung darstellt, bringt man die Frau, deren Frigidität als physiologische Schwäche des Metabolismus bewertet wird, mit dem Kälteprinzip in Verbindung. Da ihre Lebenswärme unzureichend ist, kann die Frau ihre Körpersäfte nicht genügend erwärmen, um sie zu verfeinern. Daher gilt der weibliche Samen als rohes Sperma, was dem Menstruationsblut entspricht, und Aristoteles assoziiert Weiblichkeit mit Frigidität und diese mit Schwäche. Bis ins 17. Jahrhundert hinein sollten die Ärzte Gefallen daran finden, die Schwachstellen der Frau im Vergleich zu der normalen, warmen und feuchten Temperatur des Mannes aufzulisten. Sie werden ihres kalten und phlegmatischen Temperaments wegen mit unvollständigen, verstümmelten, machtlosen, schwachen und kranken Wesen gleichgesetzt. Die Humoralpathologie lässt demnach die Behauptung zu, dass die Frauen ihres pathogenen Körpers wegen den Männern unterlegen sind.
Die medizinische Humorallehre sollte ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach und nach verblassen. Poullain de la Barre, Kartesianer und verfolgter Protestant, verzeichnet und parodiert die frauenfeindlichen Argumente in seinem Werk "De l'égalité des deux sexes" (1673). Gabrielle Suchon, eine aus dem Orden ausgetretene Nonne und Philosophin, wendet sich in ihrem 1693 erschienenen "Traité de la morale et de la politique" gegen die Vorurteile der Philosophen und Mediziner. Suchon denaturalisiert den weiblichen Körper und stellt die These in den Vordergrund, dass unser Körper das Produkt dessen ist, was die Gesellschaft aus ihm macht. Der Begriff des Temperaments und die mit ihm einhergehenden körperlichen Besonderheiten sind keine physiologischen, sondern gesellschaftliche Kategorien: "[Elles] tendent à tenir les femmes dans l'abaissement, dans l'humiliation et dans la douleur" (Suchon, nach E.D., S. 32). Suchon enthüllt auf diese Weise den willkürlichen und konventionellen Charakter der Ungleichheit und deutet die Idee von der Perfektion des Temperaments als ein männlich generiertes Trugbild, das zur Unterdrückung der Frau beitrage. Die Ungleichheit entpuppt sich als Produkt eines politischen Machtverhältnisses, das die Frauen von Ämtern, Ehrungen, Universitäten und vom politischen Leben ausschließt.Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sollte - auch für den Aufbau des Körpers der Nation - die demographische Frage der Bevölkerungsentwicklung eine zentrale Rolle spielen und eine Veränderung in der Vorstellung der "Matrix" nach sich ziehen. Seit Hippokrates und bis ins 19. Jahrhundert bezeichnet die Matrix die Gebärmutter beziehungsweise, unbestimmter, die weiblichen Geschlechtsteile. Es handelt sich um ein natürliches Organ des Phlegma, den Sitz der Frauenkrankheiten und bevorzugten Aufenthaltsort des Dämon. Im 18. Jahrhundert bewegt die Sorge um die Gesundheit und die Angst vor Entvölkerung die Ärzte dazu, im Gegensatz zur Vorstellung einer 'degenerierten' Weiblichkeit, wie sie in Zukunft von der afrikanischen Sklavin verkörpert werden sollte, das Vorbild einer gesunden und mütterlichen Frau zu befördern. Die Fortpflanzung wird für das Wohlergehen der Nation ausschlaggebend, und der mütterliche Körper avanciert zur wichtigsten Quelle für Reichtum. An dieser Stelle sollte eine Neubewertung des weiblichen Körpers einsetzen.
Die Matrix konstituiert den Ursprung der Nation, deren einzige Erzeugerin sie ist. Das weibliche Temperament muss also neu bestimmt und als gesund angesehen werden, damit starke, robuste und kräftige Kinder zur Welt kommen können. Die einst den Männern vorbehaltenen humoralen Attribute "warm" und "trocken" wandeln sich von nun an in einen nationalen Charakterzug, der sich nicht erwerben, sondern nur vererben lässt. Das "kalte" und "feuchte" Temperament, früher die dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Funktion, wird jetzt zur Betonung des Unterschiedes zwischen Frankreich und seinen Kolonien benutzt. Die Tatsache, dass das Temperament als angeboren gilt, erlaubt es den Franzosen, sich nicht dem Risiko auszusetzen, den Eingeborenen zu gleichen; die patriotischen Frauen sind die Garantie einer gesunden Rasse, die aus dem mütterlichen Schoß stammt - daher der Titel des Buches.
Auf dem amerikanischen Kontinent orientieren sich dann die ersten Naturalisten am Modell des sexuellen Unterschieds, um das Konzept der "Rasse" zu erarbeiten: karibische Indianer oder deportierte Sklaven wären demnach Bevölkerungen mit einem pathogenen, verweichlichten und schwachen Temperament. Genau diese Bindeglieder zwischen Gattung, Sexualität und Rasse sowie deren zentrale Rolle bei der Ausbildung der modernen französischen Nation analysiert Dorlin, indem sie zeigt, wie von der Definition eines "tempérament de sexe" zu der eines "tempérament de race" übergegangen wird. Die Nation nimmt im wörtlichen Sinne Gestalt an im weiblichen Modell der weißen, gesunden und fürsorglichen "Mutter", das den Vorstellungen einer "degenerierten" Weiblichkeit - darunter Hexen, Ätherikerinnen, mannweibische Marketenderinnen, Nymphomaninnen, Tribaden und afrikanische Sklavinnen - entgegensteht. So wird offenbar, dass Geschlecht und Rasse zu dem Zeitpunkt, als sich die französische Nation für Sklaverei und Kolonisierung einsetzt, auf dieselbe Matrix zurückgehen.
Indem der Körper der Sklaven pathologisiert wird, ist mithilfe der zunehmenden Anthropologisierung des Politischen die Vorstufe zu ihrer Rassenkonstruktion erreicht. Die Theorie Dorlins findet eine Ergänzung in der Studie von Carole Reynaud-Paligot über die Darstellung des menschlichen Unterschiedes in rassischen Fragen im Umkreis der "Société et l'Ecole d'anthropologie de Paris" Ende des 19. Jahrhunderts, als deren Vorkämpfer Paul Broca gilt. Die Anthropologie suchte sich einen wissenschaftlichen Anstrich, um eine ungleiche Sichtweise auf die menschliche Gattung zu legitimieren, die gleichsam als "instrumentum regni" den Zielen der Republik dient. Die Unterdrückung eines aus biologischer Sicht minderwertigen Geschlechts wird durch die Unterdrückung einer aus politischer Sicht als minderwertig dargestellten Rasse ersetzt, wobei die Dialektik von physiologischer und medizinisch-politischer Argumentation demselben Ziel gilt: der Unterdrückung eines Geschlechts beziehungsweise einer Rasse, die man zwecks ihrer besseren Ausbeutung als unterlegen darzustellen bemüht ist. Während sich die meisten Untersuchungen bisher auf die Denker des rechtsextremen Lagers konzentriert haben, wurde die Erforschung des republikanischen Rassedenkens vernachlässigt. Genau diese Lücke möchte Reynaud-Paligot schließen, indem sie zeigt, dass Gelehrte, Politiker und Kolonialverwalter zwischen 1860 und 1920 einer gemeinsamen Rassenvorstellung verbunden waren.
Manfred Overmann, Übersetzung: Nicola Denis

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La matrice de la race: Généalogie sexuelle et coloniale de la nation française