Pariser Tagebuch 1942-1944

Aus dem Französischen von Elisabeth Edl

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Berr, Hélène
2009, Hanser Verlag, München 2009, ISBN10: 2757808842

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 1/2010 

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Ce livre a fait l'objet d'un compte rendu de lecture dans le numéro : Dokumente/Documents 1/2010 

Rezension / Compte rendu:
Ein erschütterndes Tagebuch

Sie ist gerade mal 20 - ein junges französisches Mädchen geht durch Paris. Es ist ein warmer herrlicher Frühlingstag, dieser 7. April 1942. Hélène Berr ist auf dem Weg zu Paul Valéry, den sie um eine Widmung gebeten hat. Der berühmte Dichter hat tatsächlich bei der Concierge sein Buch "Tel quel" hinterlegt und auf das Titelblatt geschrieben: "Beim Erwachen, so milde das Licht, und so schön dies lebendige Blau." Die Worte kommen der Stimmung der jungen Frau entgegen, die an der Sorbonne eine Diplomarbeit über den englischen Dichter John Keats vorbereitet. Als Jüdin war ihr nach dem Literaturstudium mit Magisterabschluss die Lehramtsprüfung verwehrt worden. Doch beim Flanieren im "Jardin du Luxembourg" lässt sie sich ganz gefangennehmen von dieser Stimmung der Lebensfreude, der Schönheit des Frühlings. Eine knappe Bemerkung ihres Begleiters schreckt sie auf: "Die Deutschen werden den Krieg gewinnen." Aber Hélène wehrt sich: "Nein! Was soll denn aus uns werden, wenn die Deutschen gewinnen?"
Hélène Berr, die aus einem bürgerlichen, wohlsituierten jüdischen Elternhaus stammt, beginnt ihr Tagebuch mit diesem Eintrag. Am 8. Juni 1942 muss sie zum ersten Mal den gelben Stern tragen. Sie trägt ihn mit Trotz, "immer sehr elegant und sehr würdevoll". Sie versucht in dieser Haltung ihre Angst zu überspielen, spürt die Düsternis und Dissonanz der Gegenwart.
Es ist ein erschütterndes Tagebuch, das Bekenntnis einer schönen Seele, die für Glück und Harmonie bestimmt scheint und der Schwärze einer zunehmenden Bedrohung ausgesetzt ist. Über zwei Jahre führt Hélène Berr ihr Tagebuch, unterbrochen durch neun Monate, von denen sich kein Eintrag findet. Immer wieder kontrastiert ihr Verständnis für die Schönheit klassischer Musik mit ihrem klaren Blick für die Ungeheuerlichkeiten der die Juden bedrängenden Verfolgung im besetzten Paris. Sie spielt Geige, hört mit ihren Freunden Beethoven, Schubert, Schumann und Brahms, engagiert sich heimlich für die Betreuung jüdischer Kinder und sieht dabei in klarer Unbeirrtheit dem immer näher kommenden Unheil des eigenen Schicksals entgegen.
Sie beobachtet, wie die Pariser Juden wie Vieh verschleppt werden, hört von den schrecklichen Zuständen im Lager Drancy. Und sie begreift früher als viele andere französische Juden, dass es den Deutschen um ihre Vernichtung geht. Zuerst wird ihr Vater verhaftet, weil er seinen Stern nicht fest auf das Jackett genäht, sondern nur mit Häkchen befestigt hat, um ihn leichter auf Anzüge und Mäntel umstecken zu können. Das Chemieunternehmen, in dem er arbeitet, kauft ihn nach drei Monaten aus dem Lager frei. Seine Tochter will Zeugnis darüber ablegen, wie die Pariser Juden langsam in den Abgrund getrieben werden. Sie bricht in Tränen der Wut aus angesichts der Schikanen, muss das alles aufschreiben, ist empört, empfindet aber keinen Hass auf die Deutschen.
An einem Märzabend 1944 bleibt die Familie zu Hause, zu müde, um erneut ein Versteck aufzusuchen. In den frühen Morgenstunden werden sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert. Die Mutter stirbt schon im folgenden Monat in der Gaskammer, der Vater ein paar Monate später. Hélène wird Anfang November nach Bergen-Belsen verlegt, erkrankt an Typhus und kommt fünf Tage vor der Befreiung des Lagers ums Leben, gerade mal 23 Jahre alt. Ihr Tagebuch, das ihre Nichte Mariette Job Anfang der 1990er-Jahre bei Hélènes ehemaligem Verlobten findet, ist ein an- rührendes, erschütterndes Dokument. Es dauerte 16 Jahre, bis in der Familie alle mit der Veröffentlichung einverstanden waren. In Frankreich erlebt dieser beeindruckende Text einen ähnlichen Erfolg wie hierzulande das Tagebuch von Anne Frank.
Wolf Scheller

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