Vom Zauber der Freiheit – eine Wiederentdeckung Tocquevilles

Schriften zur europäischen Ideengeschichte, Band 1

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Bluhm, Harald
2006, Akademie Verlag, ISBN10: 3050041757

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Rezension / Compte rendu:
Vom Zauber der Freiheit - eine Wiederentdeckung Tocquevilles

Hommagen an einen Klassiker der politischen Wissenschaft sind bisweilen zweischneidig, bedeuten sie doch allzu oft, dass man von ihm alles zu wissen glaubt und seine Positionen kennt. Und dann dient allein die Nennung seines Namens oder die Zitierung seiner Schriften weniger der kritischen Auseinandersetzung als der eigenen Positionierung. So darf, wer sich auf Tocqueville beruft oder ihn gar als den Montesquieu des 19. Jahrhunderts preist, sich des Beifalls liberaler oder konservativer Kreise sicher sein, denn seine Hauptwerke, "De la démocratie en Amérique" und "L’Ancien Régime et la Révolution", scheinen den Vorbehalten gegenüber der Entwicklung der Demokratie im alten Europa und der revolutionären Tradition Frankreichs genug Nahrung zu geben.
Seine vor einigen Monaten von Harald Bluhm unter dem Titel "Kleine politische Schriften" präsentierten Reden und Aufsätze zeigen jedoch einen bisher eher unbekannten, weil gegenüber solcher Vereinnahmung widerspenstigen und darüber hinaus höchst aktuellen Autor: Zum Beispiel einen Tocqueville, der seine Vorstellung von Freiheit gegen jedwede Reduktion auf einen schnöden Wirtschaftsliberalismus verteidigt. "Was!", empört er sich gegen den vom "Enrichissez-vous" geprägten Zeitgeist; "[f ]ür diese Gesellschaft von Bienen oder Bibern, für diese eher aus klugen Tieren denn aus freien und zivilisierten Menschen gebildete Gesellschaft wäre die Französische Revolution vollzogen worden!" ("Rede zur Frage des Rechts auf Arbeit", S. 196). Allein diese Apologie der Freiheit des Bürgers gegen seine Reduktion auf den Kunden, schlimmer noch: auf den Verbraucher, macht aus Tocqueville einen hellsichtigen Kritiker der liberalen Gesellschaft und ihrer Ab- und Irrwege in den Konsumrausch als eine die Gleichheit aller garantierende Instanz. Eine "Gleichheit in der Knechtschaft" nennt Tocqueville diese Unterwerfung unter den Ökonomismus, ohne jedoch die Gleichheit per se zu verdammen, wie es sich mancher Tocqueville-Verehrer vielleicht wünschte: "Tocqueville unterscheidet eine berechtigte Leidenschaft für die Gleichheit im Sinne einer Aufstiegsorientierung, bei der die kleinen den Rang der Großen erreichen wollen, von einer Gleichheitssucht, dem Versuch der Schwachen, die Großen auf ihre Stufe herunterzuziehen", kommentiert Harald Bluhm in seiner unter der Überschrift "Tocqueville – der klassische Analytiker der modernen Demokratie" stehenden Einleitung in die so genannten kleinen, weil eher unbekannten und hier größtenteils zum ersten Mal ins Deutsche übersetzten politischen Schriften (S. 21).
"Aufstiegsorientierung versus Gleichheitssucht", "Zauber der Freiheit versus Sog der Gleichheit" und schließlich "Individualismus versus Egoismus" – allein diese Schlüsselbegriffe der hier vorgestellten Reden und Aufsätze zu den unterschiedlichsten Themen wie dem des Rechts auf Arbeit, des Problems des Pauperismus, der Kolonisierung Algeriens und anderen zeigen einen eher unbekannten Tocqueville, der gerne provoziert und Anhänger wie Gegner verstört: Als er kurz nach der blutigen Niederschlagung des Juni-Aufstandes von 1848 in der genannten Rede vor der Verfassungsgebenden Versammlung Robespierre – zustimmend! – zitiert, ist die Konfusion perfekt. Dabei nimmt er den – wie er ihn nennt – Anführer der blutigen Diktatur des Konvents nur beim Wort: "Meiden Sie die alte Manie, alles regeln zu wollen [...] geben Sie der Freiheit des Einzelnen das zurück, was ihr unrechtmäßig weggenommen wurde" (S. 196). Robespierres Worte, die das Ancien Régime geißelten, lassen sich – so Tocquevilles Suggestion – problemlos auf die Situation des Jahres 1848 übertragen, und den heutigen Leser überkommt der Verdacht, dass dies keinesfalls erledigte Probleme ohne Bezug zur Gegenwart sind.
Um den Primat des Politischen gegenüber außer- und vorpolitischen Instanzen – egal ob selbstherrliches Gottesgnadentum oder das hohle Fortschrittspathos ökonomischer Gewinnbilanzen – zu verteidigen, erinnert Tocqueville in seinen Reden und Aufsätzen an den Kern demokratischer Tradition, bei dem die formale Gleichheit und der Zauber der Freiheit zusammengehören wie die zwei Seiten einer Medaille: Jeder Mensch, schreibt er 1836 in einer Abhandlung über "Die sozialen und politischen Verhältnisse Frankreichs vor und nach 1789", sei "von Geburt an Träger eines gleichen und unantastbaren Rechts, in allem, was nur ihn selbst betrifft, unabhängig von seinesgleichen zu leben und sein eigenes Los so zu gestalten, wie er es beabsichtigt. [...] Dann hat auch der Gehorsam seine Sittlichkeit verloren, und es gibt nichts mehr außer den mannhaften und stolzen Bürgertugenden und der niedrigen Willfährigkeit des Sklaven" (S. 105).
Zivilcourage sagt man heute zu den "mannhaften Bürgertugenden", und in höchstmöglichem Maße sein eigenes Los zu gestalten wird heute durch das Prinzip der Subsidiarität angestrebt. Ebenso modern wie Tocquevilles Thesen zur konkreten Form einer demokratischen Gesellschaft sind jedoch auch seine prinzipiellen Erörterungen zur Demokratie und ihren Voraussetzungen, welche gerade in Zeiten Berücksichtigung finden sollten, in denen manche die westliche Demokratie als Exportprodukt für ferne Kontinente und fremde Kulturen betrachten: Eine demokratische Staatsform bedürfe nicht nur einer formalen Zustimmung durch die Bürger, sondern auch demokratischer Lebensformen, ja der Freiheitsliebe seiner Bürger; dies sei die Voraussetzung zur Bildung demokratischer Institutionen, welche es ihren Bürgern gestatten, "vorübergehend der Freiheit überdrüssig zu werden, ohne sie zu verlieren", heißt es in dem Aufsatz zu den "Sozialen und politischen Verhältnissen Frankreichs vor und nach 1789" (S. 106).
Wie ein Leitmotiv zieht sich die Frage nach den auch von der gewaltigen revolutionären Zäsur unbeeindruckten Kontinuitäten in der französischen Geschichte durch das Denken und die Schriften Tocquevilles, und bereits in diesem 20 Jahre vor seinem Buch "L’Ancien Régime et la Révolution" erschienenen Text zeichnen sich die Konturen der provokanten These ab, derzufolge die sich in der Revolution Bahn brechende Idee der Gleichheit letztlich ein Erbe der nivellierenden Zerstörung aristokratischer Freiheiten im Zeitalter des Absolutismus sei. Sollte man deshalb, wie Alan Kahan in seiner Studie über das politische Denken Jakob Burckhardts, John Stuart Mills und Alexis de Tocquevilles ("Aristocratic Liberalism", 1992), von einer aristokratischen Variante liberalen Denkens sprechen? Man kann, wenn daraus nicht folgt, den politischen Denker Tocqueville, der es ablehnte, seine Adelstitel zu führen und sich seine sicherlich aristokratisch geprägte Lebensform durch eigene Leistungen verdiente, als Gegner der Revolution zu preisen oder zu stigmatisieren. Tocqueville geht es darum, das politische Erbe der Revolution zu retten, und indem er sich "gegen die Verächter der Demokratie ebenso wie gegen ihre naiven Bewunderer" (Harald Bluhm) wendet, setzt er sich zwischen alle Stühle – die der Konservativen nicht weniger als die der Liberalen. Gerade letzteren hält er vor Augen, dass die politische Freiheit zwar der Institutionen bedarf, letztlich aber von Voraussetzungen abhängt, die sie nicht selbst generieren kann – mit anderen Worten: von Überzeugungen, die jedem Handeln vorausgehen und durch die alle Taten reflektiert werden müssen. Ob die Zuhörer seines Vortrages "Über die politischen Wissenschaften" auf der Jahressitzung der Académie des Sciences Morales et Politiques am 3. April 1852 wohl die Provokation bemerkten, als Tocqueville ihnen zurief: "Die Ungebildeten sind die einzigen, die in der Politik nur die Praxis erkennen" ( S. 53)? Neben dieser Erkenntnis des Dilemmas der Liberalen und trotz, ja gerade wegen mancher erst spät formulierten Einsichten, zum Beispiel hinsichtlich der Ursachen von Armut und der daraus folgenden Notwendigkeit sozialpolitischer Programme, hat dieser skeptische Bewunderer der amerikanischen Demokratie und scharfsinnige Analytiker der Revolutionen vielen Klassikern der politischen Wissenschaft etwas voraus, was seine Lektüre so spannend macht: Selbstkritik sowie Überprüfung vormals geäußerter Thesen und Positionen an der Wirklichkeit, vor allem aber Vorbehalte gegen den Pragmatismus der Realpolitik: Seine im Oktober 1841 formulierten "Gedanken über Algerien" sind nur auf den ersten Blick einem machtpolitischem Konzept geschuldet und reden nur scheinbar einer Art liberalem Imperialismus das Wort, demzufolge die Kolonisierung eines fremden Landes vor allem dessen Zivilisierung bedeute. Zu seinen Lebzeiten fand das nicht veröffentlichte Manuskript unter dem Titel "Travail sur l’Algérie" kaum Leser. Aber woran liegt es, dass Tocquevilles spätestens seit der Pléiade-Ausgabe von 1962 bekannten Vorbehalte gegen den ungebrochenen Kulturoptimismus der Kolonisierung in der Debatte vom Frühjahr 2006 über die vermeintlichen zivilisatorischen Segnungen der französischen Algerien-Politik nicht berücksichtigt wurden? "Die größten Hindernisse [der Kolonisation eines Teils von Algerien] liegen weniger im Land als bei uns", schreibt Tocqueville, der spätere Außenminister der II. Republik und bereits 1841 anerkannte und einem großen Publikum bekannte Schriftsteller. "Ändern wir die Methoden, werden wir das Blatt wenden. Aber auf die Art, wie wir die Sache in Angriff genommen haben und immer noch nehmen, würden wir nicht einmal die Ebene von Saint-Denis besiedeln können, wenn sie noch unbewohnt wäre" (S. 162). Was die französische Algerien-Politik betrifft, wurden die Methoden nicht geändert und das Blatt nicht gewendet – nicht zugunsten der Demokratie und nicht im Sinne des von Tocqueville immer wieder beschworenen Zaubers der Freiheit.
Neben vielen anderen zeigt das zuletzt zitierte Beispiel hinsichtlich des komplizierten Verhältnisses Frankreichs zu Algerien die Weitsicht und Aktualität dieses Klassikers der politischen Wissenschaften, der, wie Bluhm zurecht schreibt, "mit Hoffnung und Sorge die jüngsten gesellschaftlichen Entwicklungen beobachtet und aus mannigfaltigen politischen Enttäuschungen lernt, seine Positionen revidiert und korrigiert" (S. 13). Die jetzt vorliegende Ausgabe der Reden und Aufsätze Tocquevilles zeichnet die Entwicklung seines Denkens nach und lässt uns neben dem Autor der beiden Hauptwerke über die Demokratie in Amerika und das Erbe des Absolutismus im revolutionären Frankreich den skeptischen Betrachter und kritischen Kommentator seiner Gegenwart entdecken, deren Erbe unsere Gegenwart noch lange beschäftigt.
Clemens Klünemann

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Vom Zauber der Freiheit – eine Wiederentdeckung Tocquevilles