Prinzessinnen

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Darrieussecq, Marie
2013, Hanser, München , ISBN10: 3446241205

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 2/2013 

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Ce livre a fait l'objet d'un compte rendu de lecture dans le numéro : Dokumente/Documents 2/2013 

Rezension / Compte rendu:
Genie und Wahnsinn
Literarische Neuerscheinungen aus Frankreich

Literarischer Erfolg in Frankreich bedeutet nicht unbedingt literarischer Erfolg in Deutschland und umgekehrt. Dennoch haben deutsche Verlage in den letzten Monaten eine Vielzahl mit Bedacht gewählter französischer Bestseller in Deutschland herausgegeben, wissend, dass deutsche Leserinnen und Leser stets Interesse für moderne französische Literatur haben.

Le roman français en Allemagne
Les éditeurs allemands ont publié ces derniers mois de nombreux romans français en traduction allemande. Beaucoup d’oeuvres à succès restent encore non traduites. Certains auteurs, qui ont connu un réel succès en France, ne sont pas encore dans les listes de best-sellers en Allemagne, mais le choix des éditeurs traduit bien l’intérêt que portent les lecteurs allemands à la littérature moderne française.
Réd.

Viele Deutsche dürften die soeben erschienenen Bücher von Pierre Bost und Julien Gracq vor allem als posthume Werke wahrnehmen: Pierre Bost ist bereits 1975 gestorben, Julien Gracq 2007. Und ihre Werke, die jetzt ins Deutsche übersetzt wurden, beschreiben wie Jean Echenoz und Emmanuel Carrère Situationen aus der Vergangenheit. Marie Darrieussecq ist die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt: Ihr (umstrittener, zumindest viel diskutierter) Roman über Sexualität hat sie zwar 2011 geschrieben, es geht aber um eine Situation aus den 1980er-Jahren.

Marie Darrieussecq, Prinzessinen (Originaltitel: Clèves). Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Hanser, München, 2013, 302 Seiten.

Ganz prosaisch im Hier und Jetzt verortet und ohne jegliche nostalgisch misszuverstehende Grundierung versehen ist hingegen Marie Darrieussecqs Roman Prinzessinnen. Harte Kontraste bestimmen da die Szenerie. Darrieussecq (geboren 1969) schildert das Leben und die Innenansicht von Solange, einem pubertierenden Mädchen, das sich in seiner eigenen, bizarren Phantasie einen Reim zu machen versucht auf die verstörenden körperlichen Veränderungen und dem jähen Einbruch des Sexuellen in sein junges Leben. Clèves, so der Titel im Original, ist ein fiktiver Ort, vor allem ein empathieloses Provinznest, in dem seltsame Figuren wie der obskure Monsieur Bihotz sich wie selbstverständlich die Unwissenheit und Unsicherheit des Mädchens zunutze machen, um es sexuell zu missbrauchen. Die tablettenabhängige Mutter fällt als pädagogisches Korrektiv komplett aus, und so etwas wie sexuelle Aufklärung hat es ohnehin nie gegeben. So sind den multiplen Vergewaltigungen Tür und Tor geöffnet. Solanges stupende Naivität lässt sie die erste erfahrene Sexualität eher krude und unromantisch als ein Abspulen von Mechanismen erfahren, verstörenderweise wird die Gültigkeit der überwiegend pervers aufscheinenden Erwachsenenwelt von ihr aber eigentlich nie in Frage gestellt; sie nimmt die schleimigen Avancen des sexgeilen Monsieur Bihotz eher als natürlich oder zumindest gegeben an. In der Akzeptanz dieser Ungeheuerlichkeiten erschafft sie sich eine eigene Phänomenologie der Sexualität, eine, die sie aber kurioserweise am Ende sogar ein Stück weit retten wird. Dass sie sich von ihrem Vergewaltiger emanzipiert, sich in einen gewissen Arnaud verliebt und Bihotz einen Abschiedsbrief schreibt, der in seiner Verzweiflung ein Unkrautvertilgungsmittel schluckt – man hätte eine derartige Volte schon nicht mehr für möglich gehalten.
Thomas Laux

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