Der große Meaulnes

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Alain-Fournier, Henri
2011, Diogenes, Zürich , ISBN10: 3257233612

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 2/2013 

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Rezension / Compte rendu:
Von heiß geliebt bis völlig unbekannt
Vor 100 Jahren erschien Alain-Fourniers Le Grand Meaulnes

Thomas Mann veröffentlichte seine Meisternovelle Der Tod in Venedig, Franz Kafka schrieb die Erzählung Das Urteil. Während Roger Martin du Gard mit dem Dreyfus-Roman Jean Barois auf sich aufmerksam machte, legte Marcel Proust den ersten Teil seines Großprojektes A la recherche du temps perdu vor. Aber das magischste Buch, das 1913 erschien, war Le Grand Meaulnes des 26-jährigen Henri-Alban Fournier, genannt Alain-Fournier.

"Er kam an einem Sonntag im November des Jahres 1890 zu uns in unser Haus." Mit seinem ersten Satz zieht uns der Autor in den Bann eines sehr persönlichen Erinnerungsbuches, das einigermaßen konventionell anhebt, dann aber zunehmend rätselhaft wird, bis es sich zu einer mehrstimmigen melancholischen Liebesgeschichte ohne Logik erweitert. Er, das ist Augustin Meaulnes, ein großgewachsener Junge von 17 Jahren, mit dessen Ankunft für den zwei Jahre jüngeren Ich-Erzähler François Seurel "ein neues Leben" beginnt.
Er ist anders, reifer als alle Schulkameraden und stets für Überraschungen gut. So verschwindet Meaulnes spurlos, um Tage später völlig erschöpft wieder aufzutauchen und am Unterricht teilzunehmen, als sei nichts geschehen. Erst nach langem Drängen vertraut der Ausreißer seinem Freund François sein Abenteuer an: Er sei, nachdem er sich rettungslos im Wald verirrt habe, in ein sonderbares Maskenfest einer Hochzeit auf einem vornehmen Anwesen geraten. Dort habe er die Bekanntschaft einer so liebreizenden jungen Frau namens Yvonne de Galais gemacht – er müsse sie unbedingt wiedersehen. Doch so sehr sich die beiden Freunde auch bemühen, den Weg zu dem Ort von Meaulnes’ phantastischen Erlebnis zu rekonstruieren, sehen sie sich doch außerstande, das "Traumschloss" wiederzufinden.
Mit dem Bräutigam und Bruder von Yvonne, der seinerseits seine Braut verloren hat, ergibt sich ein zweiter Handlungsstrang. Meaulnes verpflichtet sich aus Solidarität mit dem Bruder der Frau, die er hoffnungslos liebt, dessen Frau Valentine zu finden. Doch Meaulnes verstrickt sich bei dieser zweiten Suche in doppelte Schuld. Als es nach Jahren dann dem Ich-Erzähler François gelingt, für seinen Freund Yvonne, die "so viel Anmut mit so tiefinnerem Ernst verband", ausfindig zu machen, ist es für das langersehnte Erleben einer wechselseitigen großen Liebe zu spät.
Was auf den ersten Blick verwirrend scheinen mag, erweist sich bei näherer Lektüre als kunstvolle literarische Variation einer existentiellen Suche
nach Lebensglück, die schicksalhaft zum Scheitern verurteilt ist. Dabei bewegt sich dieser Roman in traumwandlerischer Balance zwischen realistischer Faktizität und märchenhafter Fiktion. So sind sämtliche Ortsangaben in der waldreichen Gegend der Sologne und weiter im Süden entlang des Cher, eines Nebenflusses der Loire im Berry, geographisch belegt. Der Beruf des Lehrers, den der Vater des Ich-Erzählers ausübt, wird nach dem damaligen Modell eines republikanischen instituteur genau beschrieben. Zudem macht die Namenswahl der Personen die autobiographische Inspiration des Romans evident. Während Yvonne de Galais den Vornamen der großen Liebe des Autors Alain-Fournier trägt, hat seine Titelfigur Meaulnes den Vornamen seines Vaters, Augustin. Auf der anderen Seite überrascht dieser Roman in seinem realen Rahmen mit mystisch-märchenhaften Szenen. Höhepunkt dabei ist das Hochzeitsfest, in das Meaulnes unversehens gerät, "wo alles zwar wunderschön, aber doch irgendwie fieberhaft und unwirklich war", ohne dass er sich fremd fühlen würde. Im Gegenteil: "Ein unsägliches Vertrauen erfüllte ihn." Dass sich hier gewisse Assoziationen an die biblische Genesis einstellen, kommt nicht von ungefähr. Glaubt der zufällige Gast doch, ein Paradies betreten zu haben, zu dem, einmal wieder verlassen, die Rückkehr verwehrt bleibt. Auch wenn sich dem Leser nicht jede Wendung des Romans sogleich erschließt (vieles wird nur angedeutet, manches bleibt unerklärlich), steht die stilistische Bravour Alain-Fourniers außer Frage. Der erhabene Ernst, mit dem sich die Jungen an der Schwelle zum Erwachsenensein auf die Suche nach dem wahren Leben machen, hat etwas zeitlos Reines und Authentisches. Dass ihre Träume nicht nur nicht in Erfüllung gehen, sondern auch die unverbrüchliche Freundschaft des Erzählers mit der Titelfigur schlussendlich im wahrsten Sinne des Wortes auseinandergeht, gibt dem Roman einen melancholischen Tenor, der seinen Widerhall in der Poetik des Autors findet: "In der lautlosen Stille der Schulstube, in der noch von der Schlussfeier her die grünen Papierkränze zerfetzt herumhingen und die Hüllen der Buchpreise umherlagen, die Wandtafeln sauber geputzt dastanden, erinnerte alles daran, dass das Schuljahr zu En de war, die Belohnungen verteilt, dass alles auf den Herbst wartete, auf den Schulbeginn im Oktober und die neue Arbeit – und ich dachte auch daran, dass unsere Jugendzeit unwiederbringlich vorbei und das Glück versäumt war." Wenn Le Grand Meaulnes auch hundert Jahre nach seinem Erscheinen seinen festen Platz in der französischen Literatur hat – er zählt ebenso zum Schulstoff wie er von reifen Lesern gern als Lieblingsbuch genannt wird –, so ist er in Deutschland immer noch so gut wie unbekannt. Gar nicht zu reden davon, dass kaum jemand weiß, wie der Name auszusprechen ist (nämlich: Mohn). Die Wahrnehmung dieses Romans könnte beiderseits des Rheins nicht unterschiedlicher sein, was womöglich an einem seltsamen Paradox liegt. Dieses Buch ist nämlich très français und zugleich unfranzösisch. Typisch ist das Modell eines Erinnerungsbuches voll schwärmerischer Nostalgie und bitterer Erfahrungen mit den Gesetzen des Lebens, so wie man es von Chateaubriand über Proust und Pagnol bis zu Jean Rouaud her kennt. Indem sich dieser Roman aber den Gesetzen der erzählerischen Logik entzieht, ist er alles andere als cartesianisch. Die Geheimnisse eines Lebens finden ihre Entsprechung in Ungereimtheiten des Romans. Was dessen Faszination aber keineswegs schmälert. Dass ein junger Mann sich im Wald verirrt, ohne aus eigener Kraft herauszufinden, ist in der Literatur eines Landes, das die Natur im gezirkelten Garten domestiziert hat, ungewöhnlich, aber auch tröstlich für Leser, die an ihrem Schicksal irre zu werden drohen.
Zum Ruhm des Grand Meaulnes hat nicht zuletzt beigetragen, dass sein Autor kurz nach dessen Erscheinen mit nicht einmal 27 Jahren zu den ersten französischen Soldaten gehörte, die ihr Leben in la Grande Guerre ließen. Am 3. August 1914 hatte Deutschland Frankreich den Krieg erklärt. Am 22. September desselben Jahres fiel Alain-Fournier in einem Gefecht bei Saint-Rémy-la-Colonne in der Nähe von Verdun.
Medard Ritzenhofen

Le Grand Meaulnes
Il y a 100 ans, Alain-Fournier, décédé à 27 ans au combat quelques jours seulement après la Déclaration de guerre, publiait Le Grand Meaulnes, un roman d’aventure et d’amitié qui a marqué le début du 20e siècle en France, un livre dense, largement inconnu en Allemagne, inspiré par l’adolescence de l’auteur et qui a sa place dans la littérature française. L’amitié guide les héros du récit, les amène à se dépasser, à se connaître et à trouver le bonheur qu’ils cherchent désespérément. Une nouvelle traduction allemande est annoncée pour 2013.
Réd.

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Der große Meaulnes