Journal

1851-1896

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: de Goncourt, Edmond und Jules
2013, Zweitausendeins, ISBN10: 3861507420

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 3/2013 

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Rezension / Compte rendu:
Hochstapler und falsche Heilige
Das Journal der Brüder Goncourt vollständig auf Deutsch

Sie sind vielleicht das berühmteste Brüderpaar der Weltliteratur, auf jeden Fall aber auch eines der berüchtigtsten. Edmond und Jules de Goncourt begannen Ende 1851, kurz nach dem Staatsstreich von Napoleon III., alles aufzuschreiben, was ihre berühmten Zeitgenossen aus Literatur, Politik und Gesellschaft zum Besten gaben. Sie waren keine Dichter, sie brauchten nichts zu erfinden.

Aber sie waren gnadenlose Beobachter, boshaft und witzig zugleich – und sie verstanden sich als eingefleischte "Indiskretins" bestens auf die kultivierte Befriedigung ihres klatschsüchtigen Publikums spezialisiert wie niemand sonst in ihrer Zunft. Was sie hörten und beobachteten, bestärkte sie in der Überzeugung, dass es lohnenswert sei, auch die Nachwelt damit zu ergötzen. So entstand ihr legendäres Journal mit Erinnerungen aus dem literarischen Leben von 1851 bis 1896, das der Dresdner Romanist Victor Klemperer als "die reichste Sittengeschichte der französischen Literatur im Zeitalter des Positivismus" rühmte. Und andere standen mit ihrer Begeisterung nicht nach. Thomas Mann bekannte: "Nicht Zola, sondern die sehr viel artistischeren Goncourts waren es, die mich in Bewegung setzten." Friedrich Nietzsche sprach von der "interessantesten Novität" und schwärmte: "Ich selbst gehörte gar nicht übel hinein."
Die Erinnerungen der Goncourt-Brüder sind keine Unterhaltungsliteratur, obwohl sie einen hohen Unterhaltungswert haben. Sie sind ein Lesestoff für Spezialisten wie für Amateure, was aber keineswegs überrascht. Denn schließlich ist unter allen Formen des Autobiographischen das Tagebuch diejenige, die am wenigsten verpflichtet ist, auf den Leser Rücksicht zu nehmen. Allerdings widerspricht die Vorgehensweise der Goncourts jenem "autobiographischen Pakt" zwischen Autor und Leser, auf dem nach der Erkenntnis des französischen Literaturwissenschaftlers Lejeune das Funktionieren der literarischen Selbstdarstellung beruht. Die skandalträchtige Offenheit, mit der diese "Spitzel der Wahrheit" – wie sie der Figaro genannt hat – Abend für Abend aufschrieben, was sie tagsüber gehört oder beobachtet hatten, bringt den Leser in eine Voyeur-Rolle, die Ihresgleichen sucht. Jetzt kann sich auch das deutschsprachige Publikum an dieser "Jauchegrube voller Goldstaub" (Elke Schmitter) erfreuen. Mitte November soll das vollständige Journal der Brüder Goncourt in 13 Bänden bei Zweitausendeins erstmals auf Deutsch erscheinen. Möglich gemacht hat dies der Verleger Gerd Haffmanns, der vor drei Jahren auch schon die als Sensation begrüßten Tagebücher von Samuel Pepys in vollständiger Übersetzung auf den Markt gebracht hat. Freilich dürfte das Goncourt-Projekt alles bisher Dagewesene an literarischen Großprojekten noch in den Schatten stellen.
Dieses Tagebuch "als allabendliche Beichte" entstand aus dem Geist "zweier zwillingshafter Denkweisen" – so Edmond de Goncourt, der nach dem frühen Tod seines jüngeren Bruders Jules im Jahr 1870 das Journal allein weitergeführt hat. So entstand eine intime Chronik, die sich über einen Zeitraum von 45 Jahren erstreckt. Edmond und Jules de Goncourt konnten dieses fantastische Unternehmen aber nur aufgrund der Einkünfte bewerkstelligen, die sie als Rente aus dem Vermögen ihres Vaters Marc-Pierre Huot de Goncourt bezogen, dessen Adelstitel sie ebenfalls erbten. Beide beschließen nach dem Tod der Eltern, ihr Leben künftig gemeinsam der Kunst zu widmen. Sie teilen sich dabei nicht nur Arbeit und Vermögen, sondern auch ihre Mätressen. Sie publizieren Essays und Erzählungen, historische Porträts über Marie Antoinette und Madame Pompadour, und sie versuchen sich am naturalistischen, akribisch-deskriptiven Roman – wobei sie ihre Sujets aber keineswegs nur in den oberen Rängen der Gesellschaft finden. So schreiben sie über den Alltag einer Krankenschwester (Soeur Philomène ) ebenso unbefangen wie über eine Prostituierte (La Fille Elisa) oder das Leben eines bürgerlichen Mädchens in Renée Mauperin. Der letzte Roman – Les Frères Zemganno – erzählt vom Leben zweier Brüder, die sich als Artisten durchs Leben schlagen und von den Zeitgenossen naheliegend als Porträts der Brüder Goncourt erkannt wurden. Dem voraus ging das vielleicht bedeutsamste Werk der Goncourts – Germinie Lacerteux von 1864 – mit dem die Autoren ihr Publikum mit einem Roman konfrontieren, der ihrer Meinung nach eine "klinische Studie der Liebe" von wissenschaftlicher Genauigkeit darstellt und zum ersten Mal eine Analyse der unteren Gesellschaftsschichten unternimmt. So heißt es im Vorwort: "Das Publikum liebt verlogene Romane; dies ist einer, der wahr sein will. Es liebt die Bücher, die sozusagen zur guten Gesellschaft gehören; dieses Buch kommt von der Straße." Damit wurden die Goncourts zu Wortführern des literarischen Naturalismus, in enger Nachbarschaft zu Emile Zola. Allerdings blieben sie in ihrem geistigen Habitus dem Niveau der "Gentilhommes de lettres" verhaftet, dem aristokratischer Standesdünkel und Dandytum, verbunden mit der üblichen Verachtung für den Plebs, nicht fremd waren.

Chronique scandaleuse

Diese "Aristokraten der Literatur" waren der Auffassung, dass sie mit der detaillierten Schilderung von Episoden aus ihrem persönlichen Lebenskreis immer auch Aspekte der Wahrheit beleuchteten, die sich aber längst nicht immer mit ihren eigenen Urteilen vertrug: "Unsere Bemühungen waren darauf gerichtet, bei der Nachwelt das beseelt  Erscheinungsbild unserer Zeitgenossen wieder aufleben zu lassen." Charakteristisch für die Gesellschaft des Second Empire unter Napoleon III. war eben die Haltung einer Parvenu-Gesellschaft, der die Welt von Armut und Elend durchaus fremd und fern war. Das mondäne Leben, das der Kaiser mitsamt Kaiserin und Hof führte, wurde überall in den gehobenen Kreisen der Pariser Gesellschaft imitiert. Dabei waren die Grenzen zwischen Welt und Halb-Welt so rasch verwischt, dass moralische Bedenken vor dem Verlangen nach Glanz und Reichtum keinerlei Wirkung entfalten konnten. So wurde das Journal der Brüder Goncourt über weite Strecken auch zu einer "Chronique scandaleuse". In dieser Gesellschaft gab es in Wahrheit keine Geheimnisse mehr. Wer mit wem etwas hatte, wurde schnell allgemein bekannt. Die Goncourts haben Veränderungen in der Gesellschaft, auch die allgemeine Kommerzialisierung, sensibel registriert: "Unser Paris, das Paris, in dem wir geboren wurden, das Paris der Sitten von 1830 bis 1848, verschwindet. Es verschwindet indes weniger in seiner materiellen, als vielmehr in seiner moralischen Erscheinung. Das gesellige Miteinander erfährt eine gewaltige Veränderung, die gerade erst beginnt."
Die Brüder Goncourt reproduzieren in ihrem Journal vor allem auch den gesellschaftlichen Klatsch, der im Umkreis der literarischen Zirkel gedieh, garnieren ihn mit Sottisen, verweigern sich aber jeglicher Identifikation mit der eigenen Zeit. Damit handelten sie sich aber auch eine Menge Hass ein. So wütete der Jesus-Biograph Ernest Renan, als er im vierten Band seinen kritischen Betrachtungen begegnete, die er zwanzig Jahre zuvor über die Deutschen geäußert hatte: "Monsieur Goncourt besitzt keine Spur von Intelligenz und Moral." Edmond de Goncourt reagierte gelassen: "Ich habe nie behauptet, dass Monsieur Renan sich über die deutschen Siege freute, aber ich habe wohl erklärt, dass er die deutsche Rasse der französischen Rasse für überlegen hielt. Übrigens ist es kein Geheimnis, dass während der letzten zwei drei Jahre vor dem Ausbruch des Krieges von 1870 die großen französischen Denker ununterbrochen von der Überlegenheit des deutschen Sauerkrauts und von der Überlegenheit der Prinzessin von Preußen gegenüber allen anderen Prinzessinnen in der ganzen Welt sprachen."

Mit allen verkracht

Im Grunde sind Goncourts nach ihrer zugleich sentimentalen und stilistischen Sinnesart Kinder des 18. Jahrhunderts, dessen literarisches Rokoko sie als Kunstform entdeckten. Das tatsächlich Geschehene in ihrer Umgebung sammelten sie auch unter dem Gesichtspunkt seiner literarischen Verwertbarkeit. Da waren sich die Goncourts einig mit Flaubert, den sie zum ersten Mal 1857 trafen. Und trotz dieser schnell wachsenden engen Freundschaft charakterisierten sie ihn in ihrem Tagebuch wenig schmeichelhaft: "Und heute sehen wir es ganz klar, es gibt Grenzen zwischen uns und Flaubert. Im Grunde ist er ein Provinzler und Wichtigtuer. Sein Geist ist behäbig und dick wie sein Körper. Feinere Dinge scheinen ihn nicht zu berühren. Er ist vor allem empfänglich für Phrasendrescherei. Im Gespräch bringt er wenig neue Gedanken und er trägt sie laut und feierlich vor. Er ist plump, übertrieben und in allem ohne Leichtigkeit, im Scherz, im Witz ... Seiner Ochsenfröhlichkeit fehlt es an jedem Charme." Wie anders war da doch das Urteil des Autors der Madame Bovary : "Die ganze Literatur schuldet den Goncourts Dank!" Dennoch war die Bilanz am Ende nicht sonderlich ermutigend. Edmond de Goncourt hatte sich mit allen verkracht. Befreundet blieb er allein mit der Familie von Alphonse und Ernest Daudet, ebenfalls Dichter-Brüder, über die im Journal zunächst nur Positives berichtet wurde. Es gab aber auch geheime Aufzeichnungen, die Edmond zunächst nicht zu Veröffentlichung vorgesehen hatte. Ende Februar 1892 krachte es jedoch gewaltig in seiner Beziehung zu den Daudets. Madame Daudet stellte den "Judas Goncourt" – wie Edmond mittlerweile in der Pariser Gesellschaft genannt wurde – zur Rede: Sie habe gehört, dass er in seinen "geheimen Heften" besonders wild mit ihrer Familie umgehe. Daudets hatten jedenfalls genug von dieser Freundschaft. Gleichwohl ließ sich Ernest Daudet von Edmond dazu überreden, nach seinem Tod als Testamentsvollstrecker zu wirken. Edmond de Goncourt starb am 11. Juli 1896 während eines Besuchs bei den Daudets in deren Landhaus in Champrosay. Zwanzig Jahre später wurden die geheimen Tagebücher der Nationalbibliothek übergeben, so wie es Edmond verfügt hatte. Nachdem bekannt war, dass die Tagebücher höchst pikante Einzelheiten aus dem Liebesleben des ein Jahr nach Edmond de Goncourt ebenfalls gestorbenen Alphonse Daudet (Lettres de mon moulin, Tartarin de Tarascon) enthielten, lehnte die Erben in jahrzehntelangem Rechtsstreit eine Veröffentlichung ab. Im Mai 1954 entschieden die Richter, dass den Erben des Testamentsvollstreckers kein Besitzanspruch auf die Tagebücher zukomme. Daraufhin begann – wie Der Spiegel damals schrieb – "das literarische Paris um den guten Ruf der längst vermoderten Urgroßmütter zu zittern", die nun schutz- und hilflos dem posthumen Wüten der Goncourts ausgeliefert seien.
Wolf Scheller

Les frères Goncourt en allemand
Le Journal d’Edmond (1822-1896) et Jules Goncourt (1830-1870), commencé en 1851 après le coup d'Etat de Napoléon III du 2 décembre et terminé de 1870 à 1896 par Edmond après le décès de son frère Jules, est actuellement en cours de traduction. Les 13 volumes de ce panorama littéraire sans complaisance de la vie artistique et mondaine de la France tout au long de la deuxième moitié du 19e siècle paraîtront au mois de novembre 2013 en allemand. De toute l’oeuvre des deux frères Goncourt, c'est surtout ce Journal qui a été maintes fois réédité en France après la parution des neuf premiers volumes de 1887 à 1896, les autres restant la propriété des prudents descendants jusqu'à une décision de justice en 1954. La famille craignait des procès en diffamation.
Réd.

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