Kompass

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Enard, Mathias
2016, Hanser, Berlin, ISBN10: 3446253157

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 4/2016 

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Rezension / Compte rendu:
Visionen vom Orient
Während einer einzigen Nacht spielt dieser in seinen multiplen Verknüpfungen schier unerschöpflich erscheinende Roman, in dem ein Mann, Franz Ritter, seines Zeichens Musikwissenschaftler in Wien, über die zahllosen Verbindungslinien zwischen Orient und Okzident nachdenkt und zu einigen spektakulären Erkenntnissen gelangt. Ritter hat sich von Berufs wegen jahrelang mit den Einflüssen des Orients auf die westliche Musik beschäftigt, aber er ist nicht nur ein ausweislich guter Kenner seiner Materie (seine Faszination für den Orient kann er ohnehin durch zahllose Reisen und Begegnungen belegen), sondern überhaupt ein Fachmann für hochkomplexe Zusammenhänge. Was ihn nun von der Orientalistin Sarah unterscheidet, die nicht nur seine große Liebe, sondern durch ihre Arbeit und ihr ganzes Engagement im Orient auch ein ständiger Bezugspunkt ist, erklärt sich aus einer anderen, womöglich differenzierteren Wahrnehmung und Bewertung: Sarah hat sich einer fundamental orientalischen (punktuell antiwestlichen) Sicht der Dinge von Beginn an stärker verschrieben als er. Dies führt zu gewissen Reibungen zwischen beiden Figuren, umschreibt letztlich aber eher den romantischen und und möglicherweise etwas zu vernachlässigenden Aspekt dieses Romans. Wenn sich die Wege der beiden Protagonisten im Buch immer wieder kreuzen, so spiegelt sich darin auf die eine oder andere Art auch die grundsätzliche Dialektik von Orient und Okzident.
Als Leser nimmt man teil an einem fulminanten Parforceritt durch beide Kulturen. Franz Ritter sucht im Orient namhafte Städte auf (u. a. Teheran, Damaskus, Istanbul), er bekommt denTerror in Palmyra oder Aleppo zu spüren, jener Stadt, die einst ein Schmelztiegel der Religionen und Ethnien war – und heute weitgehend zerstört ist. In seinen detailreichen Darlegungen zeigt er die jeweiligen Verschränkungen auf und kann vor allem den bereichernden Einfluss des Orients anhand vieler westlicher Zeitzeugen – Dichter, Maler, Musiker – ein ums andere Mal belegen, das reicht von Kafka über Chopin, Mozart, Thomas Mann bis hin zu Proust oder wieder zurück zu Rimbaud und seinem Reisebegleiter, dem verkannten (wenn nicht vergessenen) Dichter Germain Nouveau. Sie alle waren auf die eine oder andere Art der faszinierenden Fremde des Orients erlegen und profitierten davon als Inspirationsquelle ihres Schaffens. Man kann in Enards Roman aber auch den Versuch einer gesellschaftspolitischen Positionierung erkennen – insbesondere gegen das derzeitige Dampfgeplauder jener Populisten und Vereinfacher, die sich dem komplexen Gebilde orientalischer Kultur so nachhaltig versperren. In diesem Roman, 2015 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet, setzt Enard somit auch ein Zeichen gegen allgemeine Verbohrtheit und wohlfeile Erklärungsmuster.
Thomas Laux

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