Nach einer wahren Geschichte

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: de Vigan, Delphine
2016, Dumont, Köln, ISBN10: 383219830X

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 4/2016 

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Rezension / Compte rendu:
Mysteriöser Identitätsklau
Die Schriftstellerin Delphine steckt in einer Schaffenskrise. Nach einem großen Verkaufserfolg, einer autobiographisch inspirierten Enthüllungsgeschichte, will ihr nichts Rechtes mehr gelingen, keinen Satz kriegt sie mehr zusammen, der Bildschirm mit dem blinkenden Cursor verursacht ihr nur Brechreiz. Sie lernt L. kennen (man erfährt nie ihren vollständigen Namen, phonetisch entspricht L. dem französischen elle), eine Frau in ihrem Alter, die sich auffallend stark für Delphines Leben interessiert, sich aber auch subtil und einfühlsam zeigt. Beide sehen sich fortan häufiger, doch L. nimmt allmählich auch immer stärkeren Einfluss auf die eher ahnungslos agierende Delphine. Als die leidlich genesene Schriftstellerin ankündigt, als nächstes etwas Fiktionales zu schreiben, ist L. nicht nur enttäuscht; sie verlangt "Wahres" von ihr: "Das Schreiben muss eine Suche nach der Wahrheit sein, sonst ist es nichts." Tatsächlich gerät Delphine immer stärker unter ihren Einfluss, kann bald nichts mehr ohne sie unternehmen: L. nutzt das aus, sie zieht sogar bei ihr ein, angeblich übergangsweise.
Es mehren sich nun die Anzeichen von Mimikry, einer Anpassung an das Leben und Verhalten Delphines: L. trägt die gleiche Kleidung, übernimmt ihre Gesten, erledigt für die nach wie vor unsicher auftretenden und von Panikattacken gequälten Delphine deren Korrespondenz, verschickt aber auch gefälschte E-Mails, was bis hin zu einer Lesung in ihrem Namen geht. Keinem scheint etwas aufzufallen. Vorläufiger Gipfel dieser feindlichen Übernahme ist ein von L. verfasstes Manuskript an die Adresse von Delphines Lektorin – die sich begeistert zeigt, dass Delphine ihre Krise endlich überwunden und ein mehr als brauchbares Manuskript abgeliefert habe; jeglicher Protest seitens Delphine prallt an ihr ab. Am Ende verschwindet L. aus Delphines Leben und verwischt auf geradezu professionelle Weise alle Spuren. Es ist, als hätte L. nie existiert, als hätte Delphine sich alles nur ausgedacht. Souverän, dabei im Grunde nur beiläufig, jongliert de Vigan mit einem Lieblingsthema des Literaturbetriebs (Stichwort autofiction, der spielerischen Unkenntlichmachung von Wahrheit und Fiktion). Ihr Buch, 2015 mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet, erhält aber besondere Aktualität und Brisanz durch den derzeit viel diskutierten "Identitätsdiebstahl", dem Persönlichkeitsmissbrauch im Internet. Sie hat für die latente Gewalt, aber auch für die zersetzende Kraft, die hinter einer solchen Attacke steckt, ein ebenso überzeugendes wie verstörendes Beispiel vorgelegt.
Thomas Laux

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Nach einer wahren Geschichte