Mein fremder Vater

Originaltitel: Profession du père. Aus dem Französischen von Brigitte Große

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Chalandon, Sorj
2017, dtv, München, ISBN10: 3423281146

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 4/2017 

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Ce livre a fait l'objet d'un compte rendu de lecture dans le numéro : Dokumente/Documents 4/2017 

Rezension / Compte rendu:
Für Frankreich sterben?
Ein Roman und eine Dokumentation zum Algerienkrieg

Frankreichs Kolonialvergangenheit hat oft französische Schriftsteller inspiriert. Zwei Publikationen auf dem Hintergrund des Algerienkriegs sind 2017 in deutscher Übersetzung erschienen.

Sur fond de guerre d'Algérie
Sorj Chalandon fait conter par un enfant de 12 ans une histoire familiale sur fond de guerre d'Algérie ; Joseph Andras brosse l'histoire véridique du seul Européen guillotiné pendant la guerre d'Algérie.
Réd.

Ammenmärchen
Als der Algerienkrieg 1961 allmählich zu Ende geht, ist der Erzähler Emile (unzweifelhaft das Alter Ego Chalandons) 12 Jahre alt. Die sich abzeichnende Unabhängigkeit Algeriens ist Emiles Vater, einem aufbrausenden, ständig gewaltbereiten Mann, der will, dass das Land französisch bleibt, ein Dorn im Auge. Er glaubt sich zur Wehr  setzen zu müssen und beschließt, aus seinem Sohn eine Art Résistance-Kämpfer zu machen. Er weckt ihn nachts, unterzieht ihn einem militärischen, geradezu sadistischen Drill, tischt ihm nebenbei abenteuerliche Märchen über seine vermeintlich glorreiche Vergangenheit auf (als Fallschirmspringer, als Judolehrer, als Geheimagent und vieles mehr), erfindet gar einen amerikanischen Freund und Offizier, Ted, der einst mit ihm gegen die Kommunisten gekämpft habe. Dieser Ted wird, obwohl Emile ihn natürlich nie zu Gesicht bekommt, sogar zu seinem "Paten" erkoren und verantwortet auch die harten Bestrafungen des Vaters, falls Emile mal wieder mit schlechten Noten nach Hause kommt. Das feige väterliche Lügengebäude kann nur deshalb so lange funktionieren, weil Emile ein ergebener, sensibler Junge ist, der seinen Vater, egal was passiert, ob dessen "Vergangenheit" bewundert. Und der Vater nutzt das aus. In seiner Arglosigkeit glaubt Emile die Ammenmärchen, macht sich zu seinem Komplizen, bis alles nach der wahnwitzigen Äußerung des Vaters, de Gaulle müsse umgebracht werden, eine furiose Eigendynamik erfährt. Emile versteht das Verdikt nämlich als Auftrag. Als ein neuer Schüler, Luca, in die Klasse kommt, beschließt Emile allerdings, dass dieser das ausführende Organ sein soll; und Luca, gekennzeichnet als ein pied noir (so die despektierliche Bezeichnung der Algerienfranzosen) aus Oran, nimmt alle aufgetragenen Spinnereien für bare Münze, mutiert zu einem devoten Handlanger Emiles. Ein Stichtag für die Ermordung wird gewählt, Luca soll das Geld seiner Eltern stehlen, seine Zeugnisse vernichten, Autoreifen durchstechen, danach außer Landes gebracht werden. Die Sache geht tatsächlich fast genauso über die Bühne – und letztendlich natürlich schief. Für Luca soll es knüppeldick kommen, Emile trägt daran eine gehörige Mitschuld.
Es erscheint unmöglich, die Facettendichte dieses hochkomplexen Romans aufzuzeigen, zahllos sind die Vorgänge und Volten dieser einerseits verrückt und andererseits sehr traurig erscheinenden Vater-Sohn-Geschichte. Chalandon inszeniert sie ungeschönt und mit Wucht, zugleich mit der Sensibilität des Betroffenen, der die kindlichen Nöte und die seinerzeit getroffenen Kompensationen als Niederlage begreift. Immer wieder ist der Blick auf die Vaterfigur gelenkt, ein Mann, der über all die Jahre (die Geschichte endet erst 2011 mit seinem Tod) außer einer zunehmenden Demenz und Paranoia nur alte Defekte und anachronistische Impulse kultiviert – 1994 will er noch den damals amtierenden Premierminister Balladur umbringen (lassen). Er landet in der Psychiatrie, seine Frau, Emiles Mutter, bleibt in ihrer ultimativen, lange ausgehaltenen Resignation bei ihm. Chalandon zeichnet seine Figuren mit einer geradezu beklemmenden Genauigkeit im Detail, beansprucht aber kein letztes Urteil über sie und auch nicht für sich selbst.
Thomas Laux

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Mein fremder Vater