Le Grand Turc et la République de Venise

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Goulard, Sylvie
2004, Librairie Arthème Fayard, ISBN10: 221362240X

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente 1/2005 

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Rezension / Compte rendu:
Mehr als ein Manifest gegen den Türkei-Beitritt

Auf den ersten Blick scheint Sylvie Goulards Stellungnahme gegen den EU-Beitritt der Türkei unter dem Titel "Le Grand Turc et la République de Venise" das gleiche Schicksal beschieden zu sein wie den meisten politischen Manifesten: Die wenigen Ausnahmen wie zum Beispiel Zolas "J'accuse" oder Voltaires "Traité sur la tolérance" bestätigen die Regel, nach der die meisten Streitschriften und öffentlichen Stellungnahmen in Vergessenheit geraten, sobald die Angelegenheit, der sie sich verdanken, als abgeschlossen gilt. Im Falle des vorliegenden Bandes fixiert die Autorin bei erster Betrachtung ihre gesamte Argumentation auf den Dezember des vorigen Jahres, das heißt auf die offizielle Entscheidung des Europäischen Rates über die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Ist also Sylvie Goulards im Oktober 2004 erschienenes Buch durch den auf dem EU-Gipfel am 17. Dezember 2004 planmäßig erfolgten fait accompli der Ankündigung von Beitrittsverhandlungen nach zwei Monaten bereits obsolet geworden?
"Rien de ce qui est décidé sans le peuple n'est irreversible" (S. 61) hält die Autorin denjenigen entgegen, welche die Debatte um den EU-Beitritt der Türkei für abgeschlossen halten. Und bald wird dem Leser klar, dass der Dezembertermin lediglich Anlass des Buches ist, dessen erstes Kapitel ("I. Entre promesses et non-dits") die Genese der aktuellen Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei detailliert nachzeichnet, von den ersten europäischen Versprechungen an die Türkei im September 1963 durch den damaligen Kommissionspräsidenten Walter Hallstein bis hin zum schulterzuckenden Kleinmut der heutigen Politiker, die den EU-Beitritt befürworten, weil man es ja irgendwann einmal der Türkei versprochen habe. Die beiden folgenden der insgesamt fünf Kapitel widmet die Dozentin für Politische Wissenschaften am Pariser IEP einer grundsätzlichen Kritik des Demokratiedefizits in Europa ("II. La démocratie bafouée") sowie dem Toleranzgedanken, welcher von religiöser Identität nicht zu trennen sei ("III. Contre le choc des civilisations"). Im folgenden Kapitel ("IV. Quand les moyens font défaut") beschreibt die Autorin die konkreten Probleme einer Europäischen Gemeinschaft, deren größter Mitgliedstaat außerhalb Europas läge, um am Schluss die deutsch-französischen Divergenzen in der so wichtigen außenpolitischen Frage der EU-Mitgliedschaft der Türkei beim Namen zu nennen ("V. La France au secours de l'Union Européenne"). Dieser umfassende Blick auf die geplante EU-Erweiterung in Richtung Türkei zeigt, dass Sylvie Goulards Buch über den konkreten Anlass hinaus ein wichtiges und notwendiges Manifest für mehr Demokratie in der Europäischen Union, aber auch für mehr Ehrlichkeit zwischen den Partnern Frankreich und Deutschland darstellt.
Die Kapitel II. und III. stellen zweifellos den Kern des Buches dar, denn sie sprechen das doppelte Fundament des Europa-Gedankens an: Demokratie und europäische Identität. Immer wieder beklagt die Autorin, dass Entscheidungen europäischer Gremien und Institutionen die Sorgen und Wünsche der Bürger und damit die notwendige demokratische Legitimation ihres Handelns ignorieren. Eine öffentliche und tatsächlich ergebnisoffene Diskussion über den Beitritt sei nicht geführt, die bereits jetzt existierenden Schwierigkeiten einer Gemeinschaft von 25 Staaten seien vertuscht worden. Das demokratische Defizit zeige sich darin, dass der Großteil der Bürger - gerade auch in den zuletzt aufgenommenen zehn Mitgliedsländern - kaum Interesse an den Europawahlen gezeigt hat, was offenbar mit Misstrauen, zumindest aber mit Indifferenz gegenüber den europäischen Institutionen zu tun habe. Damit geht Sylvie Goulards Befund eines Demokratiedefizits in Europa in die gleiche Richtung wie Ernst-Wolfgang Böckenfördes unlängst in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" veröffentlichtes Statement unter dem Titel "Nein zum Beitritt der Türkei": Solange es am "sense of belonging" bei den Bürgern Europas mangele, könne eine so weitreichende Entscheidung wie die Aufnahme der Türkei nicht getroffen werden. Oder mit anderen Worten: Wie soll Europa mit seinen "Exportgütern" Demokratie und Menschenrechte auf andere Länder, ja Kulturkreise ausstrahlen, wenn es Probleme hat, diese seinen eigenen Bürgern als unabdingbare Bestandteile, ja als Fundament der Identität europäischer Bürger zu vermitteln?
Ausführlich geht die Autorin daher darauf ein, was unter dieser europäischen Identität zu verstehen ist. Trotz, ja wegen leidvoller Erfahrungen mit Religionskriegen und ungeachtet der aus der Aufklärung erwachsenen Trennung von Religion und Politik sei Europa undenkbar ohne den Rekurs auf seine christliche Tradition. Diese eindeutige Stellungnahme ist umso bemerkenswerter, als sich die Autorin unmissverständlich für das Prinzip der "laïcité" ausspricht. Christentum und modernes, das heißt von religiösen Vorgaben getrenntes Staatsverständnis, wie die Aufklärung es hervorgebracht hat, seien eben keine Gegensätze, denn "[e]ntre la chrétienté et les Lumières, la fécondation a été mutuelle." (S. 72). Mit ihren detaillierten Ausführungen zeigt Sylvie Goulard zweierlei: Zum einen, dass das durch gegenseitige Befruchtung von (christlicher) Religion und Aufklärung entstandene Staatsverständnis, dessen Konsequenz die "laïcité à la française" sei, etwas völlig anderes darstellt als Atatürks Auffassung von einem säkularisierten Staat. Zum anderen sucht sie auf diese Weise die immer wieder von Befürwortern einer EU-Mitgliedschaft der Türkei zu hörende Aussage zu widerlegen, dass Europa schließlich kein Christenclub sei: Neben einer eher ironischen Einlassung wendet sie dieses Standardargument gegen diejenigen, die sich seiner bedienen, indem sie die Rolle des Islam für das türkische Selbstverständnis, ja für das Selbstverständnis der durch den Islam geprägten Länder insgesamt aufzeigt.
Durch die ausführliche Berücksichtigung der religiösen Komponente zeigt Sylvie Goulard die Absurdität einer Diskussion auf, welche die jeweils diskutablen Positionen auf die holzschnittartige Gegenüberstellung einer verbohrt-christlichen Ablehnung der türkischen EU-Mitgliedschaft einerseits und einer multikulturell-weitsichtigen Zustimmung andererseits reduziert. Ihr Plädoyer ist pragmatisch: "En vérité, l'argument religieux devrait être exclu du débat; il ne devrait être utilisé ni en négatif, pour exclure les Turcs d'une Union qui n'est pas confessionnelle, ni en positif, comme barrage contre le 'choc des civilisations'." (S. 94-95). Denjenigen unter den Befürwortern, welche für einen Wandel der Beziehungen zwischen verschiedenen Kulturen durch deren gegenseitige Annäherung plädieren, stimmt Sylvie Goulard grundsätzlich zu, gibt jedoch zu bedenken: "A trop vouloir éviter le 'choc des civilisations', nous pourrions le précipiter." (S. 87).
Was fehle, sei eine politische Debatte, die ohne Zeitdruck und ohne den Druck durch angebliche oder tatsächliche Versprechungen der letzten 40 Jahre geführt werden müsse. Den deutschen Leser wird - neben diesem Plädoyer - vor allem interessieren, wie die Position der Bundesregierung analysiert wird. Die Deutschen missachten in dieser Debatte nach Meinung der Autorin, dass ihre privilegierten Beziehungen zur Türkei nicht in die Waagschale geworfen werden dürfen; dies sei eine Art - wenn auch ungewollter - Erpressung gegenüber den Franzosen, hätte doch deren eventuelle im Rahmen eines Referendums geäußerte Ablehnung des Türkei-Beitritts schlimme Folgen für Europa, aber auch für die französische Innenpolitik. Besonders bemerkenswert ist in diesem Kontext die Warnung der Autorin davor, dass die EU bei einem Türkei-Beitritt letztlich dahin gelangen würde "[de] remplacer la discrimination religieuse par une barrière raciale: les Turcs musulmans, oui; les Arabes musulmans non." (S. 91) Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entgehen, sei, die Maghreb-Staaten gleich auch aufzunehmen; was dies allerdings für die europäische Identität bedeuten würde, bedarf, so Sylvie Goulard, keiner weiteren Analyse.
Gerne würde der Leser mehr darüber erfahren, inwiefern das für die Toleranz unabdingbare Konzept der 'laïcité' als wesentliches Element der Gemeinschaft von 25 Staaten betrachtet werden kann, hat die Autorin doch Recht, wenn sie feststellt, dass "[p]our la plupart de nos partenaires, le concept de 'laïcité' est inconnu, intraduisible." (S. 71). Und etwas bemüht wirkt am Ende des Demokratie-Kapitels der Vergleich des aktuellen Zustandes der EU mit der untergehenden DDR, der in der plakativen Vision eines "Good Bye, Monnet" (S. 63) gipfelt; vielleicht sind solche Zuspitzungen dem Genre des in die Tagespolitik eingreifenden Manifests geschuldet. Aber Sylvie Goulards Buch, dessen Titel einer Replik der intriganten Frosine aus Molières "L'Avare" entlehnt wird, ist mehr als ein Manifest: Die grundsätzlichen Erwägungen zu europäischer Demokratie und Identität, aber auch die nüchterne Bestandsaufnahme deutsch-französischer Divergenzen machen aus "Le Grand Turc et la République de Venise" die Analyse einer Staatengemeinschaft, die sich auf ihren Kern zu besinnen hat, um ihre Grenzen - die des Machbaren wie auch die geographischen - zu bestimmen.
Clemens Klünemann

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