Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten. Dokumente 1945-1965 (d)

Coopération transnationale des partis démocrates-chrétiens en Europe. Documents 1945-1965 (f)

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gehler, Michael; Kaiser, Wolfram (Hg.)
2004, K.G. Saur Verlag / Thomson, ISBN10: 3598116551

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Rezension / Compte rendu:
Zusammenarbeit der Christdemokraten für ein integriertes Europa

Die anhaltende Dynamik im Reformprozess der Europäischen Union trägt dazu bei, dass die europäische Einigung auch in der Geschichtswissenschaft auf stetig wachsendes Interesse stößt. Der Blick der historischen Forschung richtet sich dabei vor allem auf die Regierungsebene sowie die Ausgestaltung von Institutionen und Politikbereichen. Gesellschaftlichen oder politischen Akteuren wie Verbänden und Parteien (und ihrer Zusammenarbeit in transnationalen Parteienbünden) wurde hingegen bisher kaum Aufmerksamkeit zuteil. Aufgrund des Einflusses der nationalen Regierungen auf politische Entscheidungen und angesichts der intergouvernementalen Vertragsrevisionen der EU bildet die transnationale Parteienkooperation ein kaum beachtetes Kapitel, das auch quellenmäßig als weithin ungesichert gilt. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in veröffentlichten Quelleneditionen wider.
Quellensammlungen zur europäischen Parteienkooperation fristen regelrecht ein Schattendasein. Umso beachtenswerter ist die jetzt von dem Innsbrucker Zeitgeschichtler Michael Gehler und dem in Portsmouth und Brügge lehrenden Mitherausgeber Wolfram Kaiser vorgelegte Quellenedition zur transnationalen Zusammenarbeit christdemokratischer Parteien in Europa. Beide Historiker sind bereits mit einschlägigen Arbeiten zum Thema hervorgetreten, zuletzt durch einen voluminösen Sammelband über christdemokratische Parteien im Europa des 20. Jahrhunderts. Schon in dieser Publikation setzten Gehler und Kaiser auch Akzente auf jene frühen Kooperationsansätze von Parteien, denen sie nun im Detail nachgehen. Im Mittelpunkt ihrer - mit 728 Seiten ebenfalls sehr umfangreichen - Quellenedition stehen mit dem informellen "Genfer Kreis" und der institutionalisierten Zusammenarbeit in den "Nouvelles Équipes Internationales" (NEI) die beiden Formen transnationaler Zusammenarbeit, die als Keimzelle der heutigen Europäischen Volkspartei gelten.
Anregungen zu einem regelmäßigen Meinungsaustausch christdemokratischer Parteien nach dem Zweiten Weltkrieg gingen von dem 1946 zur stärksten politischen Kraft der IV. Republik avancierten französischen Mouvement Républicain Populaire (MRP) sowie vom belgischen Parti Social Chrétien und der Schweizer Konservativen (Christlichsozialen) Volkspartei aus. Konkrete Gespräche fanden im Dezember 1945 am Rande eines Parteitags des MRP statt. Gemeinsamer Bezugspunkt der dort versammelten Persönlichkeiten war einerseits die erkannte Notwendigkeit, beim politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Zentraleuropas zu kooperieren, andererseits die perzipierte Bedrohung durch den Kommunismus. Die befürchtete Konkurrenz durch die Zusammenarbeit sozialistischer und liberaler Parteien leistete ihr Übriges, christdemokratische Kooperationsanstrengungen zu forcieren. Der eigentliche Gründungsaufruf der Nouvelles Équipes Internationales erfolgte in Luzern Ende Februar 1947. Formal konstituierten sie sich drei Monate später auf einem in Chaudfontaine bei Lüttich stattfindenden Kongress. In variierender Organisationsstruktur hatten die NEI bis in das Jahr 1965 Bestand, als sie mit der Gründung der "Europäischen Union Christlicher Demokraten" (EUCD) und der Verlegung des Sekretariats von Rom nach Brüssel ihre organisatorische Transformation einleiteten.
Fast zeitgleich mit der offiziellen Annäherung nationaler Parteien in den Nouvelles Équipes Internationales fanden in der Schweiz seit 1947 auch informelle Treffen christdemokratischer Politiker statt. An diesen "Genfer Gesprächen", die vor allem im Vorfeld von Viermächte-Konferenzen und Außenministertreffen stattfanden, nahmen zeitweise bis zu 18 hochrangige Politiker teil (in der ersten Zeitphase oftmals Regierungschefs und Minister). Die Genfer Gespräche dienten nicht dem Ziel, konkrete politische Beschlüsse zu fassen, sondern dem Austausch über politische Sachfragen. Zunächst spielten diese Unterredungen eine weitaus wichtigere Rolle als die Treffen der NEI, da hier so sensible Themen wie ein westdeutscher Verteidigungsbeitrag erörtert wurden. Aus deutscher Perspektive boten sie Politikern wie Konrad Adenauer ein Forum, das noch vor Konstituierung der Bundesrepublik vertrauliche "Regierungskonsultationen" ermöglichte. In den 1950er Jahren ging das Interesse an den Genfer Sitzungen jedoch zurück. Die Beratung und der Informationsaustausch wurden in dieser Form als überholt betrachtet, so dass immer seltener Regierungschefs und Minister teilnahmen. Zur Mitte des Jahrzehnts wurden die Gespräche eingestellt.
Michael Gehler und Wolfram Kaiser dokumentieren mit den zum Teil in Auszügen, zum Teil im französischen Original edierten Quellen sowohl den Entstehungsprozess als auch die weitere Entwicklung der NEI und des Genfer Kreises. Der zeitliche Schwerpunkt der Quellen liegt auf den Anfängen der Kooperation in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren. Es wird - mit Ausnahme Italiens - Quellenmaterial staatlicher und privater Provenienz aus allen Gründerstaaten der Montanunion berücksichtigt. Im Mittelpunkt stehen Quellen mit Bezug zur europäischen Integration, während andere Themen wie etwa der Ost-West-Konflikt im Kalten Krieg - der von den NEI im Rahmen ihrer weltweit ausgerichteten Konzeption ebenfalls eingehend erörtert wurde - ausgespart bleiben. Unberücksichtigt bleiben auch Quellen, die auf Kontakte im Umfeld des Europäischen Parlaments beziehungsweise der Parlamentarischen Versammlung zurückgehen. In der Edition finden sich zahlreiche unterschiedliche Quellentypen. So wird auf Vorträge, Berichte und Sitzungsprotokolle im Rahmen der Gremien und Jahreskongresse der NEI ebenso zurückgegriffen wie auf Reden, Gesprächsnotizen, Tagebuchaufzeichnungen oder die persönliche Korrespondenz der beteiligten Personen. Ergänzt werden diese Dokumente durch bereits publizierte Zeitungsartikel.
Die Herausgeber haben den Quellenband so konzipiert, dass neben strukturellen Fragen zur Organisation der NEI auch Überlegungen zu gemeinsamen und divergenten inhaltlichen Zielsetzungen dokumentiert werden. Die Quellenedition verdeutlicht so, dass die Basis der NEI nicht ausschließlich nationale Parteien waren, sondern die einzelnen Équipes, die sich entweder aus politischen Parteien, der Christdemokratie nahe stehenden Personen oder auch einzelnen Gruppen zusammensetzten wie zum Beispiel christdemokratischen Parteien im Exil oder Gewerkschaften. Diese heterogene Organisationsstruktur führte zu einer beträchtlichen inhaltlichen Disparität; auch, weil die christdemokratischen Parteien Frankreichs und Belgiens sich lange Zeit einer formellen Mitgliedschaft verschlossen, während ihre Repräsentanten zum Teil in führender Funktion in den NEI aktiv mitwirkten. Wenn die Nouvelles Équipes Beschlüsse fassten, blieben diese weitgehend unverbindlich. Stets bestand ein latentes Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch derjenigen, die ambitioniert für einen integrierten Parteienbund mit gemeinsamer christdemokratischer Identität eintraten und den Beharrungskräften jener nationalen Parteien, die eine stärkere Zentralisierung der NEI fürchteten. Programmatische Entscheidungen blieben infolgedessen auf Grundsatzerklärungen beschränkt, in denen Differenzen nicht zum Ausdruck kamen. Analytisch verbinden die Herausgeber mit ihrem einleitenden Überblick die Leitfrage nach prägenden Einflussfaktoren der europäischen Integrationsgeschichte. Gehler und Kaiser entwickeln die These, dass die europäische Einigung nicht nur durch die Gipfeldiplomatie der Regierungen zu deuten ist, sondern, dass wesentliche Erklärungen auch in jenen Netzwerken zu suchen und finden sind, in denen Verständnis für anders gelagerte nationale Traditionen geweckt, in denen Vertrauen geschafft und der Ansatz zu einer europaweiten Diskussion über die Ausgestaltung des weiteren Integrationsprozesses ermöglicht wurde. Der kritische Leser wird dieser Interpretation nach dem Quellenstudium beipflichten, denn auch wenn die NEI und die Genfer Sitzungen nur begrenzte Außenwirkung entfalteten und eine engere Zusammenarbeit an nationalen Gegensätzen und strukturellen Problemen scheiterte, so boten beide Kooperationsformen doch einen Rahmen, um Politikern (vor allem in der Regierungsverantwortung stehenden Persönlichkeiten wie Adenauer, de Gasperi oder Schuman) ein Forum für gemeinsame Überlegungen zur europäischen Einigung zu geben. Die insgesamt 222 Quellen der Publikation zeigen zahlreiche Facetten dieser Netzwerkbildung und bieten zugleich einen repräsentativen Längsschnitt durch die Frühgeschichte christdemokratischer Parteienkooperation. Den Autoren gebührt das Verdienst, die Quellen, die mehrheitlich zum ersten Mal abgedruckt werden, sorgfältig recherchiert und in einer gründlichen Edition publiziert zu haben. Ihre detaillierte Einleitung ist dabei ebenso hilfreich wie das umfangreiche Register mit zahlreichen Kurzbiographien. Kritisch bleibt - neben dem hohen Preis der Edition - anzumerken, dass sich die Herausgeber einer relativ knappen Kommentierung verschrieben haben. Dies kommt dem Umfang und der Bandbreite abgedruckter Quellen zugute, begrenzt den Leserkreis aber ausschließlich auf Fachhistoriker. Jenen bietet die Edition jedoch einen zentralen Baustein für weitere Forschungen - sowohl grundsätzlich zu einer christdemokratisch geprägten Nachkriegsära als auch spezifisch zur transnationalen Parteienkooperation.
Jürgen Mittag

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Transnationale Parteienkooperation der europäischen Christdemokraten. Dokumente 1945-1965 (d)