Wie anders ist Frankreich?

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Grosser, Alfred
2005, C. H. Beck Verlag, ISBN10: 3406528791

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Rezension / Compte rendu:
Sonderwege à la française - Vive la différence! Die Parole mag abgedroschen klingen, beim Blick auf den französischen Nachbarn greift sie nach wie vor. Seit jeher ist es die Pointierung gallischer Singularität, die den besonderen Reiz deutscher Frankreichbücher ausmacht. Schon deren Titel sprechen diesbezüglich Bände. Friedrich Sieburgs Longseller "Gott in Frankreich?" (1927) bereicherte den deutschen Sentenzenschatz ebenso wie das 1954 veröffentlichte Standardwerk "Frankreichs Uhren gehen anders" von Herbert Lüthy. Ulrich Wickert bemühte sich 1989 mit seiner Hommage "Frankreich: Die wunderbare Illusion", an die Tradition einprägsamer Buchtitel anzuknüpfen, die selbst noch in Lothar Baiers ernüchternder Alliteration "Firma Frankreich" (1988) ein fernes Echo fand.
Alfred Grosser greift auf den Topos französischer Distinktion zurück, ohne freilich damit einen Bonmot-Effekt erzielen zu wollen. Fragt er doch ganz elementar: "Wie anders ist Frankreich?" Entsprechend gelassen entfaltet sich der Tenor des Buches. Der 1925 in Frankfurt geborene Autor, den die nationalsozialistische Machtergreifung schon im achten Lebensjahr nach Frankreich führte, kennt seine Wahlheimat von früher Jugend zu gut, um mit eleganten Titeln oder provokanten Thesen brillieren zu müssen. Stattdessen vertraut der stets um "Genauigkeit und Gerechtigkeit" bemühte Politikwissenschaftler auf sein angestammtes Können, profundes Wissen auf einnehmend lesbare Weise auszubreiten. Geradezu klassisch muten die fünf  Themenkreise an, mit denen der Autor seine Tour d'horizon entlang französischer Sonderwege absteckt: "Gegenwart der Vergangenheit", "Machtverteilung in der Politik", "Gesellschaft in der Wirtschaftskrise", "Welche Kultur für wen?" sowie "Frankreich in Europa und in der Welt". Wenn sich Grosser in erster Linie an ein Publikum wendet, das nicht über intime Frankreichkenntnisse verfügt, so folgt auch der mit französischen Zuständen vertraute Leser gern den klaren Ausführungen. Zumal weniger geläufige Aspekte in größere Zusammenhänge gestellt werden. So führte Frankreich von 1939 bis 1962 fast ständig Krieg und musste dabei drei bittere Niederlagen hinnehmen: 1940 gegen Deutschland, 1954 in Indochina, schließlich der unrühmliche Rückzug aus Algerien. Umso bedeutsamer war das Wirken de Gaulles, dessen nationale Prestigepolitik Frankreich auf dem diplomatischen Parkett wieder in der ersten Reihe positionierte. Dass dies nur, wie beim Machtpoker um die ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat, "dank geschickter, harter, bis an die Grenzen der Erpressung gehender Manöver" gelang, betont Grosser zu Recht. Umso blumiger klang des Generals Grandeur-Rhetorik, die die Welt glauben
machen sollte, dass französische Ziele, "im Interesse aller Menschen liegen". Auch François Mitterrand hielt Frankreich "die undefinierbare Gabe" zugute, "die tiefen Bedürfnisse des menschlichen Geistes zu erfassen und auszudrücken." Für diesen Universalismus à la française hat Grosser eine "altdeutsche Übersetzung" parat: "Am französischen Wesen soll die Welt genesen." Als hätte er das Risiko für Europa, das in Frankreichs nationalem Referendum zur EU-Verfassung lag, geahnt, schreibt Grosser: "Man will überall dabei sein und ist auch, jedenfalls formell, an fast allem beteiligt - ohne dass dabei wirklich geklärt wird, wie man der Stimme Europas mehr Einfluss verschaffen könnte, ohne dabei auf die eigene zugunsten der Union zu verzichten. Diese Unklarheit ist eines der Merkmale des heutigen Frankreich, die Frankreich doch etwas anders machen als die anderen."
Alfred Grosser wäre nicht der einstige Pionier und heute viel geehrte Doyen unter den publizistischen Brückenbauern über den Rhein, wenn er bei seinen Reflexionen auf Seitenblicke nach Deutschland verzichten würde. Dabei sind die historischen Bögen zuweilen weit gespannt. So kommt er von Lionel Jospin, den die Zersplitterung der linken Wählerschaft bei der letzten Präsidentenwahl hinter dem rechtsextremen Jean-Marie Le Pen vorzeitig aus dem Rennen schieden ließ, auf Wilhelm Marx zu sprechen, der in der Weimarer Republik die Wahl zum Reichspräsidenten gegen den erzkonservativen Paul von Hindenburg verlor. Ausschlaggebend dafür war 1925 nicht zuletzt, dass die Kommunisten aus dem republikanischen Block ausscherten und mit Ernst Thälmann einen eigenen Kandidaten präsentierten. Dieser nahm dem Vertreter der Regierungsparteien Marx ebenso wichtige Stimmen weg wie vor drei Jahren die diversen Linksausleger dem Sozialisten Jospin. Ironie der Geschichte: Vor 80 Jahren trösteten sich deutsche Republikaner wie Heinrich Mann mit dem französischen Beispiel des ultrakonservativen Marschalls MacMahon, der nach der Niederlage Frankreichs gegen Deutschland 1873 zum ersten Präsidenten der III. Republik gewählt worden war. Die Republik überlebte den klerikalen Monarchisten und sollte erst 70 Jahre später mit Philippe Pétain von einem anderen Marschall verabschiedet werden. Dass dieser greise Kriegsheld das Ruder in Frankreich 1940 übernehmen konnte, war nicht nur der neuerlichen Niederlage gegen Deutschland geschuldet, sondern auch der Neigung des französischen Parlaments, "in dramatischen Situationen gewissermaßen zu kneifen" und einem starken Mann die Überwindung der Krise anzuvertrauen. So hatte man schon 1917 gerne Georges Clemenceau die äußerst schwierige Kriegsführung überlassen. 1954 stimmten selbst seine Gegner für Pierre Mendès France, damit dieser einen ehrbaren Abschluss des verlorenen Indochina-Krieges finde. Vier Jahre später wurde de Gaulle aus seinem lothringischen Exil gerufen, um den Algerienkrieg zu beenden. "Keines dieser Ereignisse hat das Prestige des Parlaments bei den Bürgern Frankreichs gefördert." Dennoch ist nie ein führender Repräsentant auf die Idee gekommen, die Assemblée nationale öffentlich als "Schwatzbude" zu verunglimpfen, wie es seinerzeit Kaiser Wilhelm II. in Bezug auf den Reichstag in den Sinn kam.   
Es sind die profunden binationalen Perspektiven, die Grossers sachlich-ausgewogenes Frankreichbuch doch zu etwas anderem machen als die so genannten Liebeserklärungen über den Rhein oder die sattsam bekannten Lamentos über "le mal français". Apropos französisches Übel, das doch im Wesentlichen aus einem chronischen Reformstau besteht: Mit Grosser sagt endlich
einer klipp und klar, dass die vielbeschworenen Reformen heute nichts anderes sind als "Einschränkungen". Und in dieser Hinsicht gibt es nicht den geringsten Unterschied zwischen Frankreich und Deutschland.

Medard Ritzenhofen


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