Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich

Zum 100. Geburtstag von Robert Minder

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Betz, Albrecht; Faber, Richard (Hg.)
2004, Königshausen & Neumann, ISBN10: 3826029259

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente 6/2005 

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Rezension / Compte rendu:
Deutsch-französische Grenzgänge: Werk und Wirkung Robert Minders

In der Geschichte der deutsch-französischen Kulturbeziehungen des 20. Jahrhunderts nimmt der Germanist und Komparatist Robert Minder (1902-1980) eine herausragende Stellung als "mediateur" und kultureller Grenzgänger diesseits und jenseits des Rheins ein. Neben Pierre Bertaux war Robert Minder, der ab 1958 in Paris am Collège de France lehrte, der im deutschen Sprachraum wohl bekannteste und wirkungsmächtigste französische Germanist seiner Generation.
In Frankreich wurde der gleichermaßen in der deutschen wie der französischen Sprache und Kultur verwurzelte Elsässer, der 1936 mit zwei gewichtigen Studien über Ludwig Tieck (in französischer Sprache) und Karl Philipp Moritz (in deutscher Sprache) die germanistische Bühne betrat, vor allem mit seinem 1948 erschienenen (und bis heute nicht ins Deutsche übersetzten) umfangreichen Buch über "Allemagne et Allemagnes" bekannt, einem in der Tradition von Vorläufern wie Madame de Staël stehenden gleichermaßen ethnopsychologisch wie kultursoziologisch orientierten Großessay über Deutschland und die Deutschen. In Deutschland wurde Robert Minder hingegen vor allem als Redner und Essayist geschätzt, der sich profund und originell zu Themen und Autoren sowohl der neueren deutschen als auch der neueren französischen Literatur äußerte. Sein Augenmerk galt meist regionalistischen, oft "allemannischen" Fragen, bis dato vernachlässigten literatursoziologischen Aspekten (wie der Lesebuchforschung) oder den deutsch-französischen Literatur- und Geistesbeziehungen.
Nachdem in Frankreich anlässlich Minders 100. Geburtstag ein Sonderheft der französischen Zeitschrift "Allemagne d'aujourd'hui" (No. 165/2003) erschienen ist, legen der in Aachen und Paris lehrende Germanist Albrecht Betz und der Literatursoziologe Richard Faber (FU Berlin) nun zu Ehren von Robert Minder einen gewichtigen, mit Mitteln der Deutschen Botschaft in Paris und der Deutsch-Französischen Kulturstiftung geförderten Sammelband über "Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich" vor.
Den Auftakt des Buches bilden ein einführendes "Portrait-Mosaik" Minders aus der Feder von Albrecht Betz sowie eine Zusammenfassung der Beiträge durch Richard Faber. Im Anhang befindet sich der nicht nur umfangreichste (49 Druckseiten lange), sondern für alle zukünftigen Minder-Studien grundlegendste Beitrag des Bandes, eine von Manfred Beyer akribisch zusammengestellte "Chronik und Bibliographie Robert Minders". Schaut man sich diese 260 Titel auflistende Bibliographie der Schriften Minders genauer an, so fällt auf, dass zum einen viele französischsprachige Arbeiten Minders noch nicht in deutscher Übersetzung vorliegen und dass umgekehrt viele seiner deutschsprachigen Studien und Reden nie auf Französisch veröffentlicht worden sind. Auch fehlt noch eine - in Anbetracht der wissenschaftshistorischen Bedeutung Robert Minders angebrachte - umfassende Werkausgabe des von 1924 bis zu seinem Todesjahr 1980 publizierenden Autors.
Die insgesamt 20 Aufsätze des Sammelbandes von Betz und Faber sind in vier Sektionen unterteilt, deren Titel an die Forschungs- und Publikationsschwerpunkte von Robert Minder anknüpfen: "I. Über Literaturwissenschaft und Literaturwissenschaftsgeschichte", "II. Über soziokulturelle Regionen und Räume", "III. Über Deutschland, Frankreich und Europa" sowie "IV. Interpretatorische Einzelstudien".
Richard Faber und Heribert Tommek versuchen in ihren Beiträgen, das unter anderem von psychologischen Fragestellungen und der Mentalitätenforschung französischer Schule (insbesondere Lucien Febvre) geprägte Spezifische der Literatursoziologie Minderscher Prägung aufzuzeigen. Heinrich Kaulen widmet sich in seiner Studie über "Robert Minder und das deutsche Lesebuch" einem besonders fruchtbaren Interesse Minders, der als einer der ersten Germanisten den Inhalt von Lesebüchern zum Gegenstand literarischer Forschung erkor. Rund ein Drittel der Beiträge des Sammelbandes versucht sich an einer Positionsbestimmung Robert Minders im Tableau der französischen Germanistik des 20. Jahrhunderts. So vergleicht Hans Manfred Bock Minders elsässische Identität - er sprach einmal vom Elsass als der "Nahtstelle des Kontinents" - mit dem "Elsaß als Lebensform" bei Charles Andler, Lucien Herr und Henri Lichtenberger. Katja Mermetschke vergleicht den Deutschland-Diskurs von Minder und Edmond Vermeil. Fabrice Malkani und Richard Faber zeichnen die Entwicklung Minders vom Germanisten zum Komparatisten nach, wobei Richard Faber zur treffenden Charakterisierung des reifen Minders als "europäischer Komparatist und aufgekärter Humanist" gelangt. Als gleichermaßen in der deutschen wie der französischen Kultur und Sprache verwurzelter Literaturwissenschaftler war es Minders wissenschaftliche Utopie, "eines Tages die großen Motive der deutschen und französischen Vorstellungswelt miteinander zu vergleichen." Ein solches Werk könne nämlich helfen, so das Credo des Komparatisten, "etwas zu erschaffen, was uns fast noch gänzlich fehlt: die Grundlage zu einer vergleichenden Kulturgeschichte der Völker." Ein solches "opus magnum" deutsch-französischer Komparatistik hat Minder leider nie vorgelegt, jedoch viele wertvolle Teilstücke, die als bahnbrechende Vorstudien zu einer solchen nach wie vor noch zu schreibenden großen Synthese der deutsch-französischen Kulturgeschichte im europäischen Kontext gelten dürfen.
Die meisten Beiträge des von Betz und Faber herausgegebenen Sammelbandes widmen sich zentralen Themen und Arbeiten Minders und ihrer Wirkungsgeschichte. Aufgegriffen werden insbesondere Minders Studien zu regionalistischen Themen, zum Beispiel sein "Heide"-Essay - die bis heute in ihrer Konzentriertheit unübertroffene Studie über die Bedeutung des evangelischen Pfarrhauses für die deutsche Literatur -, oder seine Arbeiten über Schiller, Hebel, Jean Paul und Alfred Döblin. Warum der französische Literaturwissenschaftler und Essayist Robert Minder nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR zur allseits akzeptierten und geachteten germanistischen Instanz werden konnte, erklärt Albrecht Betz mit den historisch-politischen Zeitumständen: "Die gesamte literarhistorische Produktion des reifen Minder [...] fällt in die Zeit des kalten Krieges. Es war sein Vorteil, von Frankreich aus, das heißt aus der Vogelperspektive - über beiden deutschen Teilstaaten - über deutsche Kulturgeschichte schreiben zu können. Auch das gab seiner Sicht eine Fülle, die im Sich-nicht-Einspannen-lassen für die eine oder gegen die andere Seite bestand."
Horst Schmidt

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