Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gilzmer, Mechtild
2007, Verlagsbuchhandlung Martin Meidenbauer, ISBN10: 3899750837

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Rezension / Compte rendu:
Von Verklärung zur Aufklärung: Erinnerungspolitik nach 1945

Wer durch Frankreich reist, trifft immer wieder – häufiger wohl als in jedem anderen Land – auf an sichtbaren Stellen errichtete Baudenkmäler, die mit entsprechenden Inschriften an vergangene Ereignisse erinnern. Bekannt sind die in fast allen Städten zu findenden Kriegerdenkmäler des Ersten Weltkrieges, Schauplätze ritueller Zeremonien am 11. November oder am 8. Mai. Interessanter aber als das Gedenken an den Sieg von 1918 ist die öffentliche Aufarbeitung der traumatischen Ereignisse der Jahre 1940–44, die zwischen Niederlage und Befreiung, zwischen Widerstand und Kollaboration, zwischen Gaullismus und Kommunismus, nach bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen ungleich komplexer und vielschichtiger gewesen ist.
In einer interdisziplinären Studie hat die Romanistin Mechtild Gilzmer die französische Erinnerungskultur, die schwarzen Jahre der deutschen Besatzung betreffend, von 1944 bis heute erforscht, vornehmlich, wenn auch nicht ausschließlich, anhand der großen nationalen Erinnerungsdenkmäler, die in der Folge des Zweiten Weltkrieges von staatlicher Seite errichtet worden sind.
Nach 1945 verfolgte Frankreich, durch die Kriegsereignisse in gegnerische Lager geteilt, eine bewusste Erinnerungspolitik und setzte dafür auch das Denkmal als wirksames und öffentlich sichtbares Medium systematisch ein. So sollte, in Anknüpfung an den Sieg von 1918, auch nach 1945 die Einheit der siegreichen Nation beschworen werden, wobei in der öffentlichen Erinnerung die historische Wahrheit diesem Ziel hin und wieder untergeordnet wurde.
Unter Auswertung der Archive aus den Pariser Ministerien (Inneres, Verteidigung, Veteranen) sowie der regionalen und nationalen Presse verfolgt Gilzmer chronologisch die verschiedenen Phasen der Errichtung nationaler Denkmäler. Vornehmliches Ziel sollte zunächst die Beschwörung der nationalen Einheit sein, bei gleichzeitiger Verdrängung von Konflikten und negativen Kriegserfahrungen. Die ersten Nachkriegsjahre, unmittelbar nach den dramatischen und "revolutionären" Ereignissen, bieten manchmal noch ein etwas chaotisches Bild, da die national und zentral definierten Vorgaben der Denkmalspolitik oft mit spontanen regionalen Initiativen und mit ideologischen Gruppeninteressen kollidieren. Auch die nationale "Commission des Monuments Commémoratifs", die alle Projekte politisch und künstlerisch zu begutachten hatte, bringt zunächst nicht die gewünschte Ordnung und Homogenität in die französische Denkmallandschaft. Die beiden ersten großen Denkmäler der nationalen Erinnerung, am Mont Mouchet in der Auvergne und in Chasseneuil in der Charente, sind dem heldenhaft-patriotischen und bewaffneten Widerstand des "maquis" gegen die Besatzungsmacht gewidmet, der dem Zeitgeist gemäß symbolisch erhöht und verklärt wird: eine monumentale architektonische Bestätigung des entstehenden und allgemein verbindlich werdenden Résistance-Mythos. Dagegen erinnert das Denkmal von Chateaubriant (Loire) an eine andere Opfergruppe, der sich Frankreich verpflichtet fühlt: an die französischen Geiseln, die an diesem Ort von der deutschen Militärverwaltung als Vergeltung für Attentate erschossen wurden. Da die meisten dieser (von der Vichy-Verwaltung unter den Gefängnisinsassen ausgewählten) Opfer der Kommunistischen Partei angehörten, will diese hier ihre herausragende Rolle im Widerstand und ihren hohen Blutzoll besonders in Erinnerung rufen. Der erste Abschnitt der französischen Denkmalpolitik war mit der gebührenden, etwas pathetischen Ehrung der Widerstandskämpfer und der Märtyrer abgeschlossen.
Einen neuen Auftrieb erhält die zielgerichtete nationale Gedächtnispolitik 1958 mit der Rückkehr de Gaulles, der nationale Denkmalstätten mit entsprechenden effektvollen Inszenierungen für seine Deutung der Geschichte und zur Stärkung der nach 1940–44 angeschlagenen französischen Identität einsetzt. So wird ein gaullistisches Projekt aus dem Jahre 1946, die Umgestaltung des Mont-Valérien im Westen von Paris zum zentralen und sakralen Ort des nationalen Gedenkens an den militärischen Widerstand im Innern und an die heroische Befreiung des Landes, wiederaufgenommen und 1960 mit einer Reihe von historischen Skulpturen vollendet. Eingeschlossen in das Gedenken am Mont-Valérien wurden auch die Geiselerschießungen, die die Wehrmacht an diesem Schauplatz vorgenommen hatte, und die die Kommunisten – wie in Chateaubriant – als ihre Sache beanspruchen konnten, obwohl diese nicht so recht zu der heroischen Siegesbotschaft der Gedenkstätte passten.
Anfang der 1960er Jahre kann de Gaulle zwei weitere sinnstiftende Erinnerungsmonumente einweihen, das Mahnmal für die Opfer des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof bei Straßburg, und das Mahnmal für die Deportierten auf der Pariser Île de la Cité, ein Werk des Architekten Pingusson, der hier erstmals durch eine mutige Absage an eine figurative Darstellung neue Wege in der französischen Denkmalsästhetik begeht.
In der Ära Pompidou/Giscard d’Estaing schien die gezielte Denkmalpolitik zur Erinnerung an die Jahre 1940–44 erfolgreich abgeschlossen zu sein. Alle Gruppen – Armee, Widerstand, KZ-Deportierte – waren als Helden oder Märtyrer der nationalen Sache geehrt worden und boten sich den Franzosen in beeindruckenden Stein- und Betonformen zur Identifikation an.
In den 1980er Jahren stellt sich ein solches Fazit jedoch als Irrtum heraus; denn wie in Deutschland sind auch in Frankreich die Jahre 1940–44, die de Gaulle bereits im August für "nul et non avenu" erklärt hatte, "eine Vergangenheit, die nicht vergeht". Nachdem in den 1970er Jahren Historiker und Journalisten, Schriftsteller und Filmemacher herausgearbeitet hatten, dass die oft verdrängte Rolle der Kollaboration viel entscheidender gewesen ist als die idealisierte und eher überschätzte Résistance, drängt 30 Jahre nach der Befreiung des Landes der Holocaust, die Deportation und Ermordung von mehr als 70 000 Juden aus Frankreich, mit Nachdruck ins öffentliche Bewusstsein und führt zu einer neuen und schmerzhaften Konfrontation der Franzosen mit den dunklen Seiten ihrer jüngsten Geschichte. Bisher waren die jüdischen Holocaust-Opfer nur am Rande, im Rahmen der Erinnerung an die Deportation, erwähnt worden. In den 1980er Jahren wird erkannt und öffentlich anerkannt, dass zwischen der Deportation von politisch Verfolgten in ein Konzentrationslager und der von rassisch Verfolgten in ein Vernichtungslager ein substanzieller Unterschied bestand. Hinzu kam, dass die bisher kaum sanktionierte Beteiligung französischer Behörden an der "Endlösung der Judenfrage" ein französisches Gewissen wachrütteln musste, das jahrzehntelang durch den Résistance-Mythos und dessen grandiose Denkmäler sowie von anderen "Vektoren" beruhigt worden war. Wie war in einem Lande der Erinnerungskultur mit dieser neuen Sicht der Vergangenheit umzugehen?
Staatspräsident Mitterrand hat – wie vor ihm de Gaulle – mit dem Hinweis auf den Ausnahmecharakter der Vichy-Regierung eine Mitschuld Frankreichs am Holocaust immer von sich gewiesen. Erst Jacques Chirac hat diese Mitschuld in seiner Rede vom 16. Juli 1995 anerkannt. Diese bemerkenswerte Rede wird von Gilzmer ausführlich zitiert, man vermisst dort aber merkwürdigerweise jenen Satz, der die zentrale und unmissverständliche Aussage enthält: "La France, ce jour-là, accomplissait l’irréparable" (S. 180).
Als Folge dieser Bewusstwerdung entsteht am Ende des 20. Jahrhunderts als eines der letzten nationalen Denkmäler an die Ära 1940–44 das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden Frankreichs im 15. Pariser Arrondissement, in der Nähe des ehemaligen Vélodrome d’hiver, wo am 16. Juli 1942 die berüchtigte Razzia von Tausenden Pariser Juden durch französische Polizei und Gendarmerie stattgefunden hatte. Eine figurativ-realistische Gruppe von verfolgten Personen stellt die Opfer dieser Razzia dar. Weder die überkommene Ästhetik dieser Darstellung noch der etwas versteckte Ort der Aufstellung der Skulptur, noch die einschränkende Inschrift ("La République Française / en hommage aux victimes et persécutions / racistes et antisémites et des crimes / contre l’Humanité commis sous l’autorité de fait dite / "Gouvernement de l’Etat de Vichy" / (1940– 1944)") scheinen der Größe des Themas angemessen zu sein, doch ist festzuhalten, dass hier in Frankreich erstmals eines Staatsverbrechens durch ein nationales Denkmal gedacht wird (Henry Rousso).
Ebenso signifikant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass aufgrund dieses neuen Geschichtsbewusstseins an den drei bestehenden großen nationalen Denkmälern – Mont Valérien, Ile de la Cité in Paris, KZ Natzweiler-Struthof – in den 1990er Jahren nicht unbedeutende Korrekturen vorgenommen wurden, um auch die Opfer der Shoa durch entsprechende deutliche Zusätze nachträglich und in angemessener Weise in die nationale Erinnerung zu integrieren.
Am deutlichsten wird diese Revision auf dem Friedhof Père Lachaise, wo die ursprüngliche Inschrift: "A la mémoire des 180 000 hommes, femmes, enfants, déportés de France, exterminés à Auschwitz, victimes de la barbarie nazie" durch diese nach dem Stand der heutigen historischen Erkenntnis und gemäß dem heutigen Sprachgebrauch geänderte Erläuterung ersetzt wurde (S. 142): "Victimes des persécutions antisémites / de l’occupant alle- mand et du gouvernement / collaborateur de Vichy / 76 000 Juifs de France, hommes, femmes et enfants / furent déportés à Auschwitz / la plupart périrent dans les chambres à gaz / Victimes de la répression policière / 3 000 résistants et patriotes / connurent à Auschwitz la souffrance et la mort".
Gilzmer verfolgt mit großer Genauigkeit die etwas gewundenen Wege der französische Praxis der Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur, die sich in den 60 Jahren von 1944 bis 2004 mehrfach verändert und angepasst hat. Darin spiegeln sich auch wichtige Entwicklungen der französischen Nachkriegsgeschichte, vom Fall von Dien Bien Phu, der zeitlich mit der Einweihung eines Siegesdenkmals zusammenfallen konnte, über einige dunkle Kapitel des Algerien-Krieges, die Anfang der 1960er Jahre auf de Gaulles Denkmal-Einweihungszeremonien Schatten werfen, bis hin zur jüngsten Gesetzesvorlage, die die Erinnerung an die positiven Seiten der französischen Kolonialherrschaft im Geschichtsunterricht zur Pflicht machen sollte.
Die französische Denkmalkultur hat sich, zusammengefasst formuliert, in den 60 Jahren zwischen 1944 und 2004 von einer heroischen Verklärung zu einer kritischen Aufklärung gemausert, von einer emotionalen Stilisierung zu informativen, überprüfbaren Erkenntnissen, von einer überholten Figürlichkeit zu einer dem Thema angemesseneren Abstraktion, von sinn- und identitätsstiftenden Bekenntnissen zu nüchternen Erkenntnissen, von nationaler Selbsterhöhung zu übernationalen Einsichten in europäische Geschichtszusammenhänge (zum Beispiel bei der Umgestaltung der Gedenkstätte Struthof oder bei der Hervorhebung der Rolle von Ausländern und Frauen im Widerstand). Eine positive Entwicklung, die die Autorin mit Genugtuung registriert.
Gilzmers Arbeit wertet die umfangreichen und neuesten Forschungsarbeiten zu diesem Thema kritisch referierend aus. Sie beginnt ihre Studie mit theoretischen Fragestellungen zum Rahmenthema Geschichte und Gedächtnis (Koselleck, Nora, Halbwachs) und beschließt ihre Arbeit, die auch zahlreiche und nützliche Abbildungen enthält, mit kunstkritischen Analysen und Interpretationen einer Reihe dieser Gebrauchskunstwerke der französischen Erinnerungspolitik. – Ein wichtiger interdisziplinärer Beitrag zur geschichtlichen Wahrnehmung der Jahre 1940 bis 1944 in Frankreich und zur Entwicklung des kulturellen Bewusstseins des Landes nach 1945.
Hermann Harder

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Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944