Schreibort Paris

Zur deutschsprachigen Tagebuch- und Journalliteratur 1945 bis 2000

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gees, Marion
2006, Aisthesis Verlag, ISBN10: 3895285811

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Rezension / Compte rendu:
Deutsche Autoren in Paris

Keine andere außerhalb des deutschen Sprachraums liegende europäische Metropole haben sich ähnlich viele deutschsprachige Autoren als ihren "Schreibort" gewählt wie Paris – sieht man einmal von der "ewigen Stadt" Rom ab. Unzählige deutsche Autoren im mehr oder weniger freiwillig gewählten Exil haben sich die Hauptstadt an der Seine, die nicht nur seit Jahrhunderten das kulturelle Zentrum Frankreichs und der Frankophonie ist, sondern gleichzeitig auch ein multikultureller Schmelztiegel, der auf Künstler und Schriftsteller aus aller Welt eine geradezu magische Anziehungskraft auszuüben scheint, als den Ort erkoren, in dem sie ihre Texte schreiben. Wobei dann auch häufig das "Thema Paris" großen Raum einnimmt, insbesondere wenn es sich um in Paris verfasste Tagebuch- beziehungsweise Journalliteratur handelt.
Eine vollständige Liste der namhaften deutschen Autoren, die im Laufe der Jahrhunderte zumindest zeitweise in Paris wirkten und dort autobiographische Aufzeichnungen verfassten, würde viele Seiten füllen. Erinnert sei zum Beispiel an so bedeutende Schriftsteller des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wie Heinrich Heine, Ludwig Börne, Rainer Maria Rilke, Oscar A. H. Schmitz, Franz Hessel, Walter Benjamin, Joseph Roth, Heinrich Mann, Ernst Jünger und viele mehr.
Mit den Paris-Projektionen, Paris-Imaginationen und jeweiligen individuellen Erfahrungen des "Schreiborts Paris" in der deutschsprachigen Tagebuch- und Journalliteratur von 1945 bis 2000 beschäftigt sich jetzt eine literaturwissenschaftliche Studie der Germanistin, Romanistin und Übersetzerin Marion Gees. Die Verfasserin spricht vom Inhalt ihres Buches treffend als "literaturkritischen Erkundungen". Streng genommen ist ihre flüssig geschriebene Untersuchung, die ein bislang nur wenig beachtetes Kapitel der deutsch-französischen Literatur- und Kulturbeziehungen nach 1945 erhellt, nämlich keine Monographie im klassischen Sinne, sondern eher eine Sammlung von literaturkritischen Essays zu verschiedenen deutschsprachigen Autoren, die sich nach 1945 in Paris in Form von Tagebuch- beziehungsweise Journalliteraur mit dem "Thema Paris" auseinander gesetzt haben. In einem einführenden Kapitel erläutert Marion Gees die "Pariser Tagebuch- und Journalliteratur gestern und heute". Für die Phase nach 1945 bis in die Gegenwart existiere, so Gees, "eine bemerkenswerte Linie deutschsprachiger Literatur, vor allem Tagebuch-, Journal- und Carnet-Texte, deren Genre der kleinen Form oder deren Sprachexperimente sowie die darin entfalteten fragmentarischen Paris-Bilder häufig unterschätzt oder kaum mehr wahrgenommen werden" (S. 15).
Im Hinblick auf die in der französischen Literatur der letzten zwei Jahrhunderte zu konstatierende große Tradition des Verfassens von Journalen beziehungsweise tagebuchartigen Aufzeichnungen in Paris (Edward und Jules Goncourt, Maurice Barrés, Romain Rolland, André Gide, Francois Mauriac etc.) behauptet Marion Gees, dass sich in Paris eine ganz eigenständige französische Tagebuch-Tradition herausgebildet habe, die wiederum viele deutschsprachige und in Paris entstandene Tagebücher des 20. Jahrhunderts beeinflusst und geprägt habe.
Die deutschsprachigen, in Paris entstandenen Aufzeichnungen, die Gees untersucht, will sie weniger als dokumentarische Zeugnisse der deutschfranzösischen Kulturbeziehungen nach 1945 verstanden wissen, sondern als "ein Spektrum von Schreibansätzen, für die die Stadt Paris in unterschiedlicher Weise eine mehr oder weniger prägende Vision eines artifiziellen Schreibortes impliziert, und die an einem, wenn auch in seinen Einzelheiten verblassten und verschobenen Mythos von Paris festhalten, ganz gleich, ob sich diese Entwürfe an Vorgänger halten oder diese nur noch Schatten der Vergangenheit wieder aufleben lassen" (S. 23). Gleichermaßen mit dem literaturkritischen Seziermesser wie mit viel Einfühlungsvermögen werden in genau dieser (chronologisch sinnvollen) Reihenfolge die folgenden Autorinnen und Autoren analysiert: Alfred Döblin, Thea Sternheim, Peter Weiss, Unica Zörn, Peter Handke, Paul Nizon, Undine Gruenter, Helmut Färber, Gundi Feyrer und Michael Donhauser. Es finden sich also zum einen "etablierte" beziehungsweise literaturhistorisch bereits kanonisierte Autoren wie Döblin, Weiss oder Handke, zum anderen aber auch Autorinnen und Autoren der jüngsten deutschsprachigen Literatur.
Zwischen "echten", eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Aufzeichnungen beziehungsweise Tagebüchern und solchen literarisierter oder fingierter Art, die von vorneherein im Hinblick auf ein erwartetes Publikum verfasst worden sind, unterscheidet Marion Gees nicht. Diese einst von Gustav Rene Hocke vorgenommene Unterscheidung erscheint ihr „nicht unproblematisch“, da in autobiographischen Texten letztlich nicht eindeutig festzulegen sei, was denn davon "Literatur" ist und was nicht.
Mit "Schreibort Paris" hat Marion Gees jedenfalls ein anregendes, kluges Buch vorgelegt, das allen an zeitgenössischer deutscher Literatur Interessierten, allen Spezialisten für das Genre "Tagebuch- und Journalliteratur" sowie nicht zuletzt allen Paris-Freunden zur Lektüre empfohlen werden kann.
Horst Schmidt

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