Zurückkehren

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Ben Jelloun, Tahar
2010, Berlin Verlag 2010, ISBN10: 3827009057

Dieses Buch jetzt bei Amazon.de ansehen
Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 3/2011 

Voir ce livre sur Amazon.fr
Ce livre a fait l'objet d'un compte rendu de lecture dans le numéro : Dokumente/Documents 3/2011 

Rezension / Compte rendu:
Zwischen Aufbruch und Zerrissenheit

L'histoire d'un travailleur immigré qui à l'approche de la retraite, après une quarantaine d'années de travail en France, retourne au Maroc et se souvient.

Mohammed, noch kniend nach seinem Abendgebet, schweift in Gedanken von einer Pilgerfahrt nach Mekka zu seiner Familie, seinen Kindern und dem heruntergekommenen Gebäude, in dem sie zusammen in der Pariser Banlieue leben. Er gibt vor, den Koran zu lesen, obwohl er nicht lesen kann: "Es war das einzige Buch, das er bei seiner Abfahrt aus Marokko mitgenommen hatte. Er hatte es in ein weißes Leinen eingeschlagen, ein Rest des Leichentuchs, in dem sein Vater beigesetzt worden war. Für ihn war dieses Buch alles, seine Kultur, seine Identität, sein Pass, sein Stolz, sein Geheimnis." Es ist ein erstaunlicher Anfang. Obwohl von Anfang kaum die Rede sein kann, denn auf den ganzen ersten 87 Seiten dieses Romans verharrt der Protagonist auf seinem Gebetsteppich, "als trage er eine schwere Last", und gibt sich seinen bildreichen Rückbesinnungen und Assoziationen hin, die zwischen Paris und Marokko hin und her schweifen. Das lange Verweilen auf diesem Teppich initiiert einen schillernden Erinnerungsvorgang, der ein ganzes Leben in vielfarbigen Bahnen Revue passieren und doch einen ausweglosen Stillstand erahnen lässt. Denn der Protagonist hadert mit seinem bevorstehenden Ruhestand, den er als Fluch empfindet, nachdem er 40 Jahre bei Renault am Band gestanden hat. Sein Leben ist, trotz der nie wirklich gelungenen Integration in Lalla France, für ihn die Fabrik, die Fließbandarbeit, der Geruch nach Lack und der jährliche Ferienaufenthalt in seinem Heimatdorf in Südmarokko, dessen Stimmung er liebt, die fröhlichen Gesichter der Kinder, all die Mitglieder seiner Riesenfamilie, deren Türen für jeden offen stehen und die ihn stets erwartungsvoll empfangen. Allein seine Kinder wollen sich nicht mehr in die festen jahrhundertealten Rituale und Gewohnheiten des Klans fügen. Im Gegensatz zum Vater sind sie heimisch geworden und können weder seine Religion noch Lebensweise sowie dessen Unfähigkeit zur Anpassung in der europäischen Fremde nachvollziehen. Er erinnert sich an seine Ausreise. Im Alter von zwanzig Jahren sieht er zum ersten Mal das Meer in Tanger. In einer leeren Cola-Flasche nimmt er zur Erinnerung und zum Vergnügen der anderen Mitreisenden, allesamt junge Männer, die auf ein besseres Leben in Frankreich hoffen, etwas Meerwasser mit und wechselt voller Illusionen von einem Leben in ein völlig anderes. Bei der Ankunft in Frankreich wird er jedoch jäh konfrontiert mit einer grauen Menge von Menschen, die die Zeit "unter sich begraben" und deren Geheimnis er nicht zu durchdringen vermag. Nachdem Mohammed sich schließlich von seinem Teppich erhoben hat, wird ihm klar, dass er nun seine Familie über die am folgenden Tage beginnende "Verrente", wie er es nennt, informieren muss. Er denkt vor allem an seine fünf Kinder "und hat(te) das Gefühl, sie verloren zu haben". Ein Sohn, verheiratet mit einer selbstbewussten Spanierin, arbeitet als Buchhalter in einem Kaufhaus, und sein größtes Ziel ist es, aus der Banlieue in die Pariser Innenstadt zu ziehen. Seine Tochter heiratete gegen seinen Willen einen Italiener, einen Christen, also einen Ungläubigen, was muslimischen Mädchen untersagt ist, ein Grund für die Tochter, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen. Frankreich wird so für den Vater zur "Kinderfresserin". Nach seiner Verrentung fährt er nun nicht wie sonst mit dem Auto, sondern allein mit dem Zug nach Marokko (sein Wagen wurde bei nächtlichen Unruhen in der Pariser Vorstadt von Jugendlichen angezündet) und entwirft auf der Reise Ideen für ein neues gemeinsames Leben mit der ganzen Familie in einem großen neuen Haus in seinem Dorf, das er schließlich auch baut, ein Haus mit Gebetsraum, Patio, Hammam, Brotofen und Hühnerhof. Seine Frau, weitaus illusionsloser als er und offener für die von europäischen Vorstellungen geprägten Kinder, versucht vergeblich, ihm die Hoffnung auf ein Zusammenleben als Großfamilie auszureden. Mit seinen letzten Ersparnissen versucht er das Haus bewohnbar zu machen. Es fehlen schließlich noch bestellte Fliesen sowie fließendes Wasser, ein noch nicht eingelöstes Versprechen des Dorfchefs, der wiederum abhängig ist von den Bürokraten in Rabat, die Anfragen auf ihren Schreibtischen horten und die zudem keine Gedanken an die Rückkehrer aus dem Exil verschwenden, schon gar nicht an deren gewachsene Ansprüche. Am Ende sitzt Mohammed in seinem unfertigen Haus auf einem neuen Sessel, dessen Beine von Tag zu Tag immer mehr in die Erde versinken, verweigert Essen, Waschungen, schließlich auch das Sprechen, "Fliegen holten sich von ihm Nahrung". Der Familienklan versammelt sich um ihn, und nur das Beten einiger Suren kann den Verzweifelten besänftigen sowie die Worte eines Vetters, der für die "vom Exil und von Frankreich misshandelte Seele" betet. Nach dreißig Tagen ist Mohammed bis zur Unkenntlichkeit abgemagert und sein Sessel "fast vollständig in der Erde versunken. Nur sein Kopf und ein Teil der Schultern ragten noch hervor", und bald versinkt auch der Kopf in der maghrebinischen Erde und hinterlässt ein ergreifendes Bild von Beckettscher Drastik. Auch wenn die Handlung am Ende kurz in ein leicht sentimentales Szenario abgleitet, mit einem Gespenst als Todesboten und Totengräbern, die beim Graben eine Überraschung erleben ("Mohammed ruhte in einem beweihräucherten weißen Leichentuch und verströmte paradiesischen Duft ..."), trifft der Leser doch insgesamt auf eine fesselnde Bildwelt sowie eine poetische Tonlage, die, subtil übersetzt von Christiane Kayser, die schmerzvolle Perspektivlosigkeit und gnadenlose Fremderfahrung dieser Menschen zum Ausdruck bringen, die sich sowohl in Europa als auch in ihrem Ursprungsland doppelt verlieren. Diese zwischen Zerrissenheit und Aufbruch angesiedelten Motive beschäftigen den in Fès geborenen und in Paris und Tanger lebenden Autor Tahar Ben Jelloun schon seit langem. So markiert etwa das diesem Roman vorangehende Buch "Partir (Verlassen)" den umgekehrten Weg auf der Achse von Süd nach Nord, nämlich die gefährliche Überfahrt von Afrikanern, die von Marokko aus auf von Schleppern bereitgestellten maroden Booten versuchen, das europäische Festland zu erreichen, ihre Familien zurücklassen und die Überfahrt oft mit dem Leben bezahlen. Erst jüngst erschien Jellouns Essayband "Arabischer Frühling", der sich der Befreiungswelle in der arabischen Welt sowie den Ursachen der Aufstände in Tunesien, Ägypten und Libyen widmet. Ein kleines, aber überaus aufschlussreiches Buch.
Marion Gees

Dieses Buch jetzt bei Amazon.de ansehen
Voir ce livre sur Amazon.fr
Zurückkehren