Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945-2010)

Rezeption, Übersetzung, Kulturtransfer

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Fischer, Carolin / Nickel, Beatrice
2012, Peter Lang, Frankfurt/Main, ISBN10: 3631559534

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Rezension / Compte rendu:
Eine geringe Präsenz

Französischsprachige Literatur in Deutschland seit 1945

Verglichen mit der Hochzeit der französischen Literatur in Deutschland von 1945 bis zum Ende der 1950er-Jahre hat sich die Zahl der übersetzten Titel halbiert. Nach der "crise éditoriale" in den 1990er-Jahren, als die französischsprachige Literatur zeitweise mit weniger als 9 % vertreten war, ist die Zahl inzwischen immerhin wieder im zweistelligen Bereich.
Welche Gründe gibt es für diese Entwicklung? Und wie schaffen es die Autoren und ihre Bücher überhaupt, von einem literarischen Feld ins andere zu wechseln? Von diesen Fragen haben sich die Literaturwissenschaftlerinnen Carolin Fischer (Pau) und Beatrice Nickel (Stuttgart) bei der Zusammenstellung ihres Sammelbandes "Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945–2010)" leiten lassen. In ihrem 2012 im Peter Lang Verlag erschienenen Band versammeln sie Beiträge von Wissenschaftlern aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Thematisch wird der enge Rahmen der "regards croisés" in mehrfacher Hinsicht erweitert: Zum einen in Hinblick auf frankophone Literatur aus der Schweiz und dem Maghreb, zum anderen bleibt der deutschsprachige Aufnahmekontext nicht auf das westdeutsche literarische Feld beschränkt; auch die ostdeutsche Rezeption wird thematisiert. Das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert eine Zäsur in der Geschichte des Literaturtransfers von Frankreich nach Deutschland. Der Romanist Joseph Jurt (Freiburg i. Br.) erinnert in seinem Beitrag an das ausgeprägte "Bedürfnis nach ausländischer Literatur", von der sich die deutschen Leser "Antworten auf dringende individuelle und kollektive Lebensfragen" erhofften. Diese neugierige Offenheit traf auf eine französische Besatzungspolitik, die zunehmend das Buch als Medium des kulturellen Wiederaufbaus und der "Rééducation" einsetzte. Zu den Werken mit Symbolcharakter gehörte das wichtigste Buch der literarischen Résistance gegen die deutsche Besatzung, Vercors Novelle "Le silence de la mer" (1943). Im deutschsprachigen Raum kursierten in der unmittelbaren Nachkriegszeit zahlreiche Übersetzungen dieses Buches, das von seinen deutschen Leser als ein Schritt zur Versöhnung dankbar aufgenommen wurde. Auf Vermittlung des französischen Kulturattachés Félix Lusset nahm der Ostberliner Aufbau Verlag 1947 "Das Schweigen des Meeres" als eines der ersten aus dem Französischen übersetzten Bücher in sein Programm. Neben der "Résistance"-Literatur verzeichnete auch der französische Existenzialismus in dieser Zeit eine Hochkonjunktur. Bis heute verfolgt man in Deutschland recht aufmerksam im weitesten Sinne philosophische und sich mit aktuellen Fragen engagiert beschäftigende Köpfe Frankreichs. Eine überraschende philosophische Dimension bekam dagegen die deutsche Rezeption von Michel Houellebecqs "Particules élémentaires" (1998), wie Christian van Treeck (Hamburg) zeigt. Diese ist nicht nur dem Medieninteresse am französischen Skandalerfolg Houellebecqs geschuldet, sie steht im Zusammenhang mit einer Debatte um Gentechnik, die Peter Sloterdijk 1999 ausgelöst hatte.

Rezeption im geteilten Deutschland
Während sich im literarischen Feld Westdeutschlands in den 1950er-Jahren rasch ein Buchmarkt entwickelte, der seine Autonomie gegenüber der (Besatzungs-)Politik behauptete und sich die Interessen der Verlage wie der Leser zugunsten anderer als der politischen Lesarten differenzierten, dominierten im literarischen Feld der DDR bis in die 1980er-Jahre hinein ideologische und politische Kriterien die Rezeption auch von französischer Literatur. Die Französin Danielle Risterucci-Roudnicky (Orléans) hat sich seit 1990 intensiv mit diesem Thema beschäftigt und 1999 ihre Forschungsergebnisse in der Studie "France-RDA. Anatomie d’un transfert littéraire" und in Form der digitalen Bibliographie "Nausikaa" veröffentlicht, in der die gesamte in der DDR übersetzte französische Literatur verzeichnet ist. Anhand von Verlagsgutachten, mit denen die Herausgabe jedes Buches in der DDR bei der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel des Ministeriums für Kultur beantragt und gerechtfertigt werden musste, sowie anhand von Vor- und Nachworten lässt sich sehr genau analysieren, welche literarischen und außerliterarischen Kriterien bei der Auswahl einzelner Autoren und Werke eine Rolle spielten. Zu den Autoren, die Danielle Risterucci-Roudnicky den Eindruck vermittelten, es in der DDR mit einer ganz anderen als der ihr vertrauten französischen Literatur zu tun zu haben, gehört Robert Merle. Sein Roman "La mort est mon métier" (1952), der als einer der ersten den nationalsozialistischen Massenmord aus der Sicht eines Täters beschrieb, wurde nach vernichtenden Kritiken im westdeutschen Feuilleton zunächst nicht ins Deutsche übersetzt. Die DDR-Ausgabe erschien 1957. Der Autor erreichte mit seinen weiteren Werken den Status eines DDR-Bestsellers. Er ist bis heute im Programm des Aufbau Verlags vertreten. Als Jonathan Littell 2006 mit "Les Bienveillantes" (deutsche Übersetzung: "Die Wohlgesinnten") auch in Deutschland eine heftige Diskussion auslöste, wurde bei Aufbau Merles Roman "Der Tod ist mein Beruf" neu aufgelegt.
Solche Querverbindungen zwischen der Rezeption französischer Werke im geteilten Deutschland und in der Nachwendezeit werden von der Forschung bisher noch wenig beleuchtet. Kaum berücksichtigt wird auch, dass sich die Rezeption französischsprachiger Literatur in Ost und West schon vor 1989 anzunähern begann. Brigitte Sändig (Potsdam), die als Romanistin und als Verfasserin von Gutachten für Verlage in der DDR den Transferprozess aus eigener Anschauung kennt, erinnert in ihrem Beitrag an eine "Öffnung und Erweiterung des Literatur-Horizonts der geschlossenen Gesellschaft DDR" in den 1980er-Jahren. Zu den Autoren, die nun erscheinen konnten, gehörte auch Michel Tournier, dessen Deutschland-Roman "Le Roi des Aulnes" (1970) bereits 1972 in Westdeutschland übersetzt worden war. 1982 nahm der Aufbau Verlag die Übersetzung in Lizenz. Solche literarischen Austauschprozesse auf Verlagsebene intensivierten sich in dem Maße, wie in der DDR der "Argwohn gegenüber den westlichen Literaturen" auf politischer Seite abnahm.
Auch der ungleichen Quellenlage ist es geschuldet, dass die Rezeptionsweisen in Ost- und Westdeutschland bisher noch wenig zueinander in Beziehung gesetzt wurden, wie beispielsweise Heinrich Stiehler (Wien) mit Blick auf die Rezeption des frankophonen rumänischen Schriftstellers Panaït Istrati feststellt. Während man den Transfer fremdsprachiger Texten in den staatlichgelenkten Literaturbetrieb der DDR anhand von Verlagsunterlagen und Gutachten, die inzwischen in Archiven einsehbar sind, sehr genau rekonstruieren kann, mangelt es an vergleichbaren Informationen aus den westlichen Verlagen, deren Entscheidungen – wie Carolin Fischer unterstreicht – "für Außenstehende nicht nachvollziehbar und selten detailliert dokumentiert sind". Die Transfermunster im west- und gesamtdeutschen literarischen Feld werden in der Regel anhand von Presseecho, Auflagenhöhe und Absatzzahlen erforscht.

Die Erwartungen der Leser
Interessante Parallelen ergeben sich in des mit Blick auf Michel Tourniers Roman, der stilistisch als Vorreiter jener französischen Schriftsteller gelten kann, die in den 1980er-Jahren eine "Rückkehr zum Erzählen" vollzogen. Nachdem man sich in beiden Teilen Deutschlands aus unterschiedlichen Gründen mit dem "Nouveau Roman" schwergetan hatte, stießen die Vertreter einer neuen Generation des französischen Romans – der traditionell am häufigsten übersetzten Literaturgattung – in Gesamtdeutschland auf größeres Interesse. Miriam Tautz (Rouen) widmet sich in ihrem Beitrag dem Transfer von Jean Echenoz, Philippe Djian und Sylvie Germain während der 1990er-Jahre und geht dabei besonders darauf ein, welche Mittel Verlage bei Titelwahl wie der Gestaltung von Umschlag und Klappentext eines Buches einsetzen, um damit den vermuteten Lesererwartungen zu entsprechen. Sie kommt zu dem überraschenden Ergebnis, dass Verleger "den französischen Ursprung und Kontext der Werke als zweitrangig betrachten" und annehmen, dass deutsche Leser "der zeitgenössischen französischen Literatur eher misstrauisch oder gar abweisend" gegenüberstünden.
Wirft man einen Blick auf die Rezeption frankophoner Literatur des Maghreb, so zeigt sich, dass die DDR dabei in einigen Fällen eine Vorreiterrolle einnahm – zum Teil, so Brigitte Sändig, motiviert durch "verschwommenen Antikolonialismus und paternalistische Hilfsattitude" auf politischer Ebene. Am Beispiel marokkanischer Literatur zeigt Mechtild Gilzmer (Berlin), dass im west- und gesamtdeutschen literarischen Feld gerade solche Autoren bevorzugt wahrgenommen die entweder wie Tahar Ben Jelloun dem "westlichen Publikumsgeschmack" entgegenkommen oder die in einer Weise rezipiert werden, die einen Exotismus bedient, der mit den tatsächlichen Literatur- und Lebensverhältnissen dort wenig übereinstimmen.
Neben den wissenschaftlichen Beiträgen bietet der Sammelband auch Praxisberichte, etwa der Kölner Übersetzerin Doris Heinemann, die Zufälle und Empfehlungen beleuchtet, die sie auf ihrem beruflichen Weg geleitet haben. Sie gibt Auskunft über die notwendigen Voraussetzungen, die Arbeitsbedingungen und auch über die Gefahr des Scheiterns im Beruf des Übersetzers. Jean-Claude Crespy, Kulturattaché an der französischen Botschaft in Österreich, gewährt mit seinem Beitrag Einblicke in das Netzwerk der auswärtigen Kulturpolitik heute und plädiert dafür, Frankreich solle "dem Rückgang des frankophonen Einflusses in Deutschland" "mit einem umfassenden Programm zur Unterstützung von Publikationen" begegnen.
Der Sammelband illustriert sehr eindrücklich, wie sehr die Rezeption französischer Literatur in Deutschland von engagierten Einzelpersonen und mutigen Verlagen vorangebracht wird und auf ihre Arbeit angewiesen ist. Ein Problem der geringen Präsenz französischer Literatur in Deutschland liegt sicher auch darin, dass es, wie Mechtild Gilzmer konstatiert, "zunehmend weniger Journalisten mit guten Französischkenntnissen", aber auch weniger an Frankreich interessierte Verleger und Leser gibt. In diesem Sinne fordern die engagierten deutschen Romanisten Wolfgang Asholt, Henning Krauss und Micheal Nerlich, sowie die Übersetzerin Evelyne Sinnassamy und der Leiter des Pariser Goethe-Instituts in ihrem "Appell pour un renouveau dans les rapports franco-allemands" ("LeMonde", 28. Juni 2012) wieder mehr Engagement in Sprachunterricht und Forschung, um die deutsch-französischen Kulturbeziehungen neu zu beleben.

Littérature française en Allemagne
Les titres de la littérature française traduits en allemand ont diminué de moitié depuis la période 1945-1950. Après la crise éditoriale des années 90, avec parfois moins de 9 % de traductions, les livres de langue française (France, Suisse, Maghreb) sont désormais plus fréquents.
Sandra Schmidt propose un compte rendu de l’ouvrage qu’un collège de chercheurs allemands, français, autrichiens et suisses, vient de publier pour analyser la situation de la littérature française et francophone en Allemagne de 1945 à 2010. Ils déplorent notamment le manque d’intérêt de la part des éditeurs (et des lecteurs) allemands pour les oeuvres françaises.
Réd.

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Französische und frankophone Literatur in Deutschland (1945-2010)