Aufzeichnungen aus dem Krieg

Originaltitel: Manuscrits de guerre

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gracq, Julien
2013, Droschl, Graz und Wien, ISBN10: 3854208383

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 2/2013 

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Rezension / Compte rendu:
Genie und Wahnsinn
Literarische Neuerscheinungen aus Frankreich

Literarischer Erfolg in Frankreich bedeutet nicht unbedingt literarischer Erfolg in Deutschland und umgekehrt. Dennoch haben deutsche Verlage in den letzten Monaten eine Vielzahl mit Bedacht gewählter französischer Bestseller in Deutschland herausgegeben, wissend, dass deutsche Leserinnen und Leser stets Interesse für moderne französische Literatur haben.

Le roman français en Allemagne
Les éditeurs allemands ont publié ces derniers mois de nombreux romans français en traduction allemande. Beaucoup d’oeuvres à succès restent encore non traduites. Certains auteurs, qui ont connu un réel succès en France, ne sont pas encore dans les listes de best-sellers en Allemagne, mais le choix des éditeurs traduit bien l’intérêt que portent les lecteurs allemands à la littérature moderne française.
Réd.

Viele Deutsche dürften die soeben erschienenen Bücher von Pierre Bost und Julien Gracq vor allem als posthume Werke wahrnehmen: Pierre Bost ist bereits 1975 gestorben, Julien Gracq 2007. Und ihre Werke, die jetzt ins Deutsche übersetzt wurden, beschreiben wie Jean Echenoz und Emmanuel Carrère Situationen aus der Vergangenheit. Marie Darrieussecq ist die berühmte Ausnahme, die die Regel bestätigt: Ihr (umstrittener, zumindest viel diskutierter) Roman über Sexualität hat sie zwar 2011 geschrieben, es geht aber um eine Situation aus den 1980er-Jahren.

Julien Gracq, Aufzeichnungen aus dem Krieg (Originaltitel: Manuscrits de guerre). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Droschl, Graz
und Wien, 2013, 191 Seiten.

Die Kriegsaufzeichnungen des großen Stilisten Julien Gracq (1910–2007), der als Leutnant im Mai 1940 in Nordostfrankreich, Belgien und Holland eingesetzt ist, werfen ein deutlich differenzierteres Licht auf den von vielen Zeitzeugen (u. a. Sartre) beschriebenen, aufgezwungenen Attentismus, der sich in der Literatur in dem eher verniedlichenden Begriff des drôle-de-guerre niedergeschlagen hat. Gracq, das wird schnell deutlich, ist mit seiner versprengten Einheit nicht immer Herr der Situation, oftmals wirkt er ratlos und muss ein Defizit an Information (sein Bataillon ist unauffindbar) verwalten, was er notgedrungen, aber erstaunlich unaufgeregt, zur Kenntnis nimmt. Bald wohnt er, trotz eines unübersehbaren Alltagsleerlaufs, tatsächlichen Kampfhandlungen bei; sie verlaufen für ihn glimpflich. Auffällig kontrastiert sein später berühmt gewordener, extrem nüchtern-analytischer Sprachduktus mit den vielen dramatischen Entwicklungen im Hintergrund des Geschehens. Neben den Aufzeichnungen des ersten Teils erfolgt im zweiten eine Fiktionalisierung des Ganzen (schlicht „Erzählung“ genannt), mit einer auktorialen Erzählerstimme, die den Leutnant G. nunmehr von außen beschreibt. Auch hier verblüfft die emotionale Distanziertheit, ein für den Leser fast verstörendes Element, das mutatis mutantis ein wenig an die Kriegsaufzeichnungen Ernst Jüngers erinnert; brennende Bauernhöfe in der Ferne beispielsweise beschreibt Gracq sehr unterkühlt und auch aufreizend lapidar („Friedlich – beinahe fröhlich – kaum tragisch in dieser stillen Nacht.“). Erst als es zu einer direkten Feindberührung kommt, in deren Verlauf zwei blutjunge deutsche Soldaten angeschossen, zum Teil schwer verletzt und gefangengenommen werden, wird Mitgefühl auch tatsächlich greifbar: der französische Leutnant kümmert sich um die Versorgung der Versehrten, und das Ganze wirkt wie ein unerwarteter Reflex der Empathie in einer eisigen, fast schon surreal gewordenen Welt der Fatalität.
Thomas Laux

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Aufzeichnungen aus dem Krieg