Das Feuchte & das Schmutzige

Kleine Linguistik der vulgären Sprache

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gauger, Hans-Martin
2012, C.H. Beck, München, ISBN10: 340662989X

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 4/2013 

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Rezension / Compte rendu:
Flüche und Beleidigungen
Die deutsche Sprache im europäischen Vergleich

Das Vokabular für Flüche und Beleidigungen ist in den einzelnen Sprachen sehr unterschiedlich, das hat der Linguist und Philologe Hans-Martin Gauger erforscht. In seinem Buch schaut er sich 15 europäische Sprachen näher an, Deutsch, Französisch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch sowie etwa Türkisch und Russisch.

Das Ergebnis darf verwundern: Überall, und insbesondere in den romanischen Sprachen, wird vorzugsweise mit sexuellen Begriffen geflucht, im Deutschen treten hingegen "anale und fäkale Begriffe" auf, wenn es um Negatives und Abwertendes geht, wenn Differenzierung verweigert und das Gespräch abgebrochen wird. Gaugers detailreiches Buch bereitet wissenschaftliche Inhalte für Laien bestens auf; mit Witz und Beispielen aus der Weltliteratur wird man über das Fluchen in Europa aufgeklärt und erfährt vieles über die Sprache insgesamt. Das französische Wort baiser dient dem Autor als Einstieg, um darzulegen, wie eine Bezeichnung für Sexuelles und Zärtliches ins Vulgäre kippt und für Negatives steht.
Im Französischen heißt es zuallererst küssen; dann aber meint es, in vulgärer Absicht, den sexuellen Akt und schließlich bedeutet es – ganz negativ gemeint – hereinlegen, betrügen oder passiv: hereingelegt werden.
Französisch steht in punkto Fluchen dem Deutschen am nächsten, insofern hier Fäkales und Sexuelles oft alternativ fungieren, mehr als in
den übrigen romanischen und anderen Sprachen, die Hans-Martin Gauger heranzieht. Das hängt sicher damit zusammen, dass das Französische unter den romanischen Sprachen am stärksten durch das Germanische beeinflusst wurde, durch die Franken, die das Land einst besiedelt haben.
Frankreich ist das einzige romanische Land mit germanischem Namen (Frank-Reich, das Land der Franken). Insofern ist die Ähnlichkeit nachvollziehbar. Merde ist zum Beispiel im Französischen ein häufig gebrauchtes Wort und davon abgeleitet das Verb emmerder, das belästigen und langweilen heißt (und nicht etwa bescheißen). Kraftausdrücke, die sich auf Sexualität oder Prostitution beziehen, gibt es in allen Sprachen; doch wo etwa im Englischen, Spanischen, Niederländischen sexuell geflucht wird, taucht im Deutschen nahezu immer Fäkales auf: "Verpiss Dich!", "am Arsch sein" und andere Trabanten des derben Wortfelds. Sexuelle Wörter werden im Deutschen nur dann bemüht, wenn es wirklich um Sexuelles geht, aber nicht um bloß Negatives. Doch genau dies geschieht in anderen Sprachen, zum Beispiel dem Niederländischen, das – unter allen germanischen Sprachen – dem Deutschen am nächsten steht, näher als das Englische. Die Niederländer benützen ständig Sexuelles; wo die Deutschen etwa sagen "ich fühle mich beschissen", da sagen sie "ich fühle mich mösig" oder "ich fühle mich hodig".
Als weiteres Beispiel für Unterschiede führt der Autor einen Vorfall bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 an, in deren Verlauf der französische Fußballheld Zinédine Zidane sich vom gegnerischen Spieler Materazzi beleidigt fühlte. Anfangs wusste man gar nicht, was Marco Materazzi gesagt hat. Der Hergang war anscheinend so: Materazzi hat Zidane am Hemd gezogen und dieser sagte: "Wenn dir mein Hemd so gefällt, dann kannst du es nachher haben!" ; darauf Materazzi: "Ich will lieber deine Schwester, die Nutte!" Das empfand Zidane, nordafrikanischer Herkunft, als Beleidigung und er versetzte Materazzi schließlich einen Kopfstoß in den Bauch, was zum Platzverweis führte. Materazzi hat sich nachher entschuldigt, er habe doch bloß gesagt, was jedem da als erstes einfalle. Einem Deutschen wäre das aber nicht eingefallen und schon gar nicht spontan (er hätte vermutlich gesagt: "Verpiss dich, Du Arschloch!" ).
Hände und Finger ersetzen mitunter die akustische sprachliche Verständigung, dabei sind solche Gesten kulturell geprägt, etwa das Zählen (der Deutsche fängt mit dem Daumen an, der Spanier mit dem kleinen Finger) oder das Hochstrecken des Mittelfingers der rechten Hand – eine sexuelle Gebärde; doch im Deutschen wird daraus der "Stinkefinger".
Das Fluchen bedient sich, neben dem Sexuellen und Fäkalen, noch anderer Sachbereiche, beispielsweise der Tierwelt (Hund, Esel), des Unwetters (Donner, Blitz) und des Religiösen (Teufel, Hölle). Letzteres wird im Schwedischen vorrangig eingesetzt, wenn man "Dampf ablässt" ; im Deutschen rangiert es beim Fluchen gleich nach dem Fäkalen, noch vor dem Sexuellen.
Das Verdrängen des Sexuellen im Deutschen zeigt sich etwa am Beispiel des spanischen Wortes carajo, einer Bezeichnung für das männliche Sexualorgan; doch eingewandert in die deutsche Sprache wird daraus mit Karacho, ein harmloses Wort für hohe Geschwindigkeit. Das Wort carajo kam – laut Wörterbuch – über Seeleute in Hamburg ins Deutsche; da bezeichnet es nun motorisierte Geschwindigkeit, also sportlich, schmissig, unvorsichtig – von der spanischen Wortbedeutung weit entfernt.

Abweichungen

Hans-Martin Gauger benennt zwei Abweichungen, erstens eine zeitliche in der vulgären Jugendsprache, in der etwa der "abgefuckte Wichser" das "Arschloch" ersetzt. Hier sieht er einen Einbruch, vor allem mit dem überall auftauchenden englischen fuck. Zweitens im südwestdeutschen Sprachraum, etwa mit dem Wort Seckel (bereits in Bayern unbekannt); es bezeichnet das männliche Sexualorgan, teilweise oder ganz; dieses wird hier beschimpft und nicht etwa das weibliche. Im Vergleich zum Französischen (wo ständig mit con geflucht wird) ist dies fast lobend zu erwähnen, denn man flucht über den Mann und lässt die Frau außen vor. Überhaupt fluchen Männer ja insgesamt mehr, und sie fluchen mehr über Männer als über das andere Geschlecht.
Gauger verzichtet auf eine letzte Erklärung für den deutschen "Sonderweg"; die deutsche Sprache lässt sich schließlich nicht einfach einem "Nationalcharakter" zuordnen, sie wird auch in Österreich und in der Deutschschweiz gesprochen. Der Befund aber ist klar, das Deutsche unterscheidet sich durch seine Obsession für fäkale Metaphern von anderen Sprachen. Immer wieder wurde eine "Analfixierung" (für Freud mögliche Folge zwanghafter Sauberkeitserziehung) der Deutschen hypostasiert (etwa von Alan Dundes), vorsichtiger formuliert es Georges-Arthur Goldschmidt im Zuge seiner Analyse der deutschen und der französischen Sprache (Als Freud das Meer sah). Gauger will aber nur beschreiben und hat keine überzeugende Erklärung gefunden (vermutlich stellte sich der Sachverhalt schon im frühen Mittelalter ein); denn dem Deutschen mangelt es nicht an Ausdrücken für Sexuelles, es setzt es aber kaum ein, wenn es um bloß Negatives geht.
Cornelia Frenkel-Le Chuiton

Vulgarités
Le livre du linguiste allemand Hans-Martin Gauger permet de comparer l'usage des gros mots et de constater les différences de vulgarité dans quinze langues du continent européen.
Réd.

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Das Feuchte & das Schmutzige