Atlantiker gegen Gaullisten

Außenpolitischer Konflikt und innerparteilicher Machtkampf in der CDU/CSU 1958-1969

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Geiger, Tim
2008, Oldenbourg Wissenschaftsverlag, ISBN10: 348658586X

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Rezension / Compte rendu:
Gaullisten und Atlantiker

45 Jahre nach Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages im Elysée-Palast im Januar 1963 scheint ein Bild dieses historische Datum auf den Punkt zu bringen: Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Staatspräsident Charles de Gaulle, die über den Umweg ihrer persönlichen Freundschaft die Aussöhnung beider Länder besiegeln. Dennoch wirft Tim Geiger, Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, in seinem Band einen Blick zurück auf diese schwierige Epoche, während der die CDU des Kanzlers Adenauer heftige Diskussionen über die Ausrichtung der bundesrepublikanischen Außenpolitik führte. Zwischen der amerikanischen Entspannungspolitik und der vom französischen Präsidenten propagierten Vision eines "europäischen Europa" waren die konservative Machthaber in Bonn zwischen Atlantikern und Gaullisten hin- und hergerissen, auf der Suche nach bestmöglichen Beziehungen zu Washington und Paris. Diese Debatte steht ebenso sinnbildlich für die Fragen, die zu der Zeit die schwierige Nachfolge Adenauers im Kanzleramt aufwarf.
Im Mai 2003 erklärte der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard Schröder anlässlich eines Festaktes zum 100-jährigen Bestehen der Amerikanischen Handelskammer in Deutschland, dass "niemand versuchen (sollte), Deutschland vor die unsinnige Wahl zu stellen zwischen seiner Freundschaft mit Frankreich und seiner Freundschaft mit den USA." Die Äußerung, die vor dem Hintergrund der in Paris wie Berlin gleichermaßen umstrittenen Irak-Intervention im Januar 2003 am Rande des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrages fiel, rückte den Streit zwischen Atlantikern und Gaullisten wieder in den Mittelpunkt der Debatte. Mit einigen Unterschieden im Vergleich zu den 1960er Jahren: Die Frage musste nicht länger nur von den Christdemokraten der CDU, sondern von der rot-grünen Regierungskoalition in Berlin erörtert werden; darüber hinaus hatte eine lange Zeit des Kalten Krieges gerade ihr Ende gefunden.
Die Analyse der Jahre von 1958 bis 1969 ist aus mehr als einem Grund von Interesse. In Deutschland hatte die CDU zusammen mit ihrem bayrischen Unionspartner CSU im Jahr 1957 die absolute Mehrheit im Bundestag erlangt, musste 1969 jedoch die Macht nach zwei Jahrzehnten an der Regierung zugunsten der Sozialliberalen Koalition abgeben. In Frankreich kehrte General de Gaulle 1958 mit der Gründung der V. Republik an die Macht zurück und trat 1969 nach dem Scheitern des Referendums über die Regionalisierung und die Reform des Senats zurück. Während dieses ganzen Jahrzehnts erregte die nukleare Abschreckung die Gemüter, da niemand wissen konnte, ob die Vereinigten Staaten im Falle eines sowjetischen Angriffs auf die Atombombe zurückgreifen würden, mit dem Risiko einer nuklearen Antwort aus Moskau gegen das amerikanische Territorium. Diese Zweifel, die durch den Bau der Berliner Mauer 1961 verstärkt wurden, beunruhigten die Bundesrepublik, die angesichts der in Washington formulierten Strategien der "massiven Vergeltung" und "flexiblen Antwort" machtlos war.
Während Frankreich (und Großbritannien) auf diese Fragen mit einer nationalen Nuklearpolitik antworteten, blieb Deutschland von seinen Bündnispartnern abhängig und versuchte seinen Platz zwischen Gaullisten und Atlantikern zu finden, um nicht Opfer einer Ost-West-Konfrontation zu werden. Tim Geiger, der die beiden Begriffe sogar im Titel seines Bandes benutzt, erklärt, dass diese Bezeichnungen aus dem politischen Diskurs der Epoche ihren Ursprung in den Medien haben. Ein Atlantiker war derjenige, der dem amerikanischen Atomschirm den Vorzug gab, ein Gaullist ein kritischer Beobachter der amerikanischen Politik des Präsidenten Kennedy und in der Folge ein Anhänger der europäischen, ja sogar eurozentrischen Vision der Sicherheitspolitik. Der Autor merkt jedoch an, dass Bundeskanzler Adenauer und sein Nachfolger Ludwig Erhard diese Begriffe ablehnten, die sie sogar als "Unfug" bezeichneten. In der Tat ging es in keinster Weise um eine Entscheidung zwischen Paris und Washington, sondern darum, in der Konkretisierung guter Beziehungen zu beiden Ländern Prioritäten zu setzen. Alle diese Diskussionen haben die Partei des Kanzlers während der 1960er Jahre bewegt. Der Band von Tim Geiger trägt zu einem besseren Verständnis für die Richtungsentscheidungen bei, für die Entwicklungsgeschichte der Umbrüche, für die - mehr als heute zugegeben wird - schwierige Annäherung des deutsch-französischen Tandems und natürlich für die bis heute bestehende Sorge des wiedervereinigten Deutschland, den optimalen Mittelweg zu finden, der die deutschen Interessen in Europa in Zusammenarbeit mit Frankreich wahrt und gleichzeitig enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten aufrechterhält, um den Herausforderungen und Bedrohungen der modernen Welt besser zu begegnen.
Jérôme Pascal, Übersetzung: Silke Stammer

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Atlantiker gegen Gaullisten