Beauvoir dans tous ses états

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Galster, Ingrid
2007, Editions Tallandier, ISBN10: 2847344543

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente 1/2009 

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Rezension / Compte rendu:
Neue Erkenntnisse und Dokumente

"Votre solidité" - das sei Simone de Beauvoirs Spitzname unter Studienkollegen gewesen, weil sie während der gemeinsamen Vorbereitung auf die "Agrégation" gerade auch im Verhältnis zu Jean-Paul Sartre wesentlich gründlicher gearbeitet habe. Diese Anekdote kann man dem Interview entnehmen, das Ingrid Galster mit Maurice de Gandillac geführt hat und in ihrem neuen Buch zu Simone de Beauvoir publiziert. Der zur Zeit des Gespräches 92-jährige Philosoph, der nicht im Verdacht stand, ein Verfechter des Feminismus zu sein, konstatierte im gleichen Zusammenhang, Beauvoirs Hauptwerk "Le deuxième sexe" habe vielleicht eine größere historische Bedeutung als Sartres "L'être et le néant", das er als nicht wirklich revolutionär bezeichnete. Vergleiche dieser Art, mit denen die Frage nach der Wirkung der Texte gestellt wird, die Beauvoir und Sartre hinterlassen haben, sind ein Kennzeichen des nicht erst mit Beauvoirs 100. Geburtstag am 9. Januar 2008 neu erwachten Interesses an ihrem Werk. Es spiegelt sich immer noch in den naturgemäß unabschließbaren, da eher spekulativen Erörterungen über die emotionale und intellektuelle Beziehung des außergewöhnlichen Paares. Darüber hinaus gilt die Aufmerksamkeit heute jedoch insbesondere der Frage nach der Bedeutung Beauvoirs als Philosophin und nach ihrer Rolle in der Frühzeit des Existentialismus, die in die Zeit des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Besatzung in Frankreich fiel.
Ingrid Galster hat während ihrer jahrelangen Forschung zu diesen Fragen zahlreiche Beiträge publiziert, die sie nun gesammelt vorlegt. Ihre Annäherung an Simone de Beauvoir erfolgt in verschiedenen publizistischen Formen, vom Interview über Rezensionen und Kolloquiumsberichten bis zum wissenschaftlichen Aufsatz, wobei ihr besonderes Interesse einer möglichst komplexen Darstellung des Gegenstandes auf der Grundlage gesicherter Daten gilt. Ihrer gründlichen Recherche verdankt es sich, dass sie zu der frühen Entwicklung der Intellektuellen Beauvoir Materialien vorlegen kann, die bisher noch unbekannt waren beziehungsweise nicht zur Kenntnis genommen wurden. Dazu gehören die ausführlichen, hier im Faksimile abgedruckten Prüfungsberichte der Kommission für die "Agrégation" 1929, aus der Beauvoir und Sartre als Erst-plazierte hervorgingen und die die gerade in jüngster Zeit engagiert geführte Debatte über die philosophische Kompetenz innerhalb des Paares zumindest für diese Frühzeit auf eine neue Basis stellen könnten. Ein weiteres Dokument, das der Öffentlichkeit bisher nicht zugänglich war, ist der Brief, mit dem die Mutter einer Schülerin Beauvoirs deren Entfernung aus dem Schuldienst verlangt. Das Schreiben beleuchtet die besondere Beziehung des zur Legende gewordenen Paares in dieser Phase und zeigt - auch wenn zu berücksichtigen ist, dass es sich hier um einen Brief handelt, der die Diskreditierung Beauvoirs zum Ziel hat -, wie problematisch sich die Beziehungen des Paares zu anderen in dieser Zeit gestalteten. Zur Entlassung Beauvoirs sei es jedoch, so Galster, nicht wegen der hier geäußerten persönlichen Vorwürfe gekommen, sondern eher weil ihre Tätigkeit als Lehrerin nicht hinreichend konform mit der Ideologie der Vichy-Regierung war, die sich mit der Triade "travail, famille, patrie" umschreiben lässt.
Aus dem Schuldienst entlassen arbeitete Beauvoir zwischen Januar und April 1944 für "Radio Vichy". Hat sie sich durch diese Tätigkeit für ein von den Deutschen kontrolliertes Medium kompromittiert? Auch zur Beantwortung dieser immer wieder gestellten Frage legt Ingrid Galster neue Materialien vor. Sie hat die sechs erhaltenen Skripte für die (insgesamt zwölf) von Beauvoir verantworteten Sendungen als erste eingesehen und gibt knappe Resümees der allem Anschein nach harmlosen, historisierenden Stücke, die Beauvoir zu einer Sendung über die Ursprünge des "music-hall" in Frankreich zusammengestellt hat. Dass sie in dieser Zeit auch eine anderthalbstündige Adaptation des Romans "Lamiel" von Stendhal angefertigt hat, ist eine Entdeckung Galsters. Es wäre reizvoll, diesen Text mit dem Stendhalschen Original zu vergleichen und zu untersuchen, inwieweit sich die These halten lässt, er sei eine Antwort auf Beauvoirs Relegation von der Schule, da die Protagonistin sich gegen Konventionen auflehnt und die Werte von Familie und untergeordneter Rolle der Frau, wie sie Vichy propagierte, ablehnt.
Trotz der Vielzahl von Veröffentlichungen zu Beauvoir, die in letzter Zeit erschienen sind, bleiben, so Galster, zahlreiche Forschungsdesiderate. An erster Stelle ist dabei die immer noch fehlende kritische Edition von "Le deuxième sexe" zu nennen. Als Einleitung zu einer solchen Neuedition könnte man sich sehr gut die knappe Zusammenfassung vorstellen, die unter dem Titel "Le Deuxième sexe, fondement du féminisme égalitaire" vielleicht nicht zufällig im Zentrum des Bandes steht. Beauvoirs mehr als 1 000 Seiten umfassendes Hauptwerk bildet in der bisher vorliegenden Ausgabe ohne Index und ohne aufschließende Kapitelüberschriften einen nur schwer zugänglichen und für Forschungszwecke mühevoll zu handhabenden Block. Galster macht die Struktur deutlich, die dem Werk zugrunde liegt, sie zeigt die in den verschiedenen Teilen unterschiedlichen Perspektiven auf und arbeitet in klarer Analyse die Hauptthesen heraus - eine außerordentliche Leistung, die geeignet ist, den Einstieg in dieses fundamentale Werk und so die intensivere Beschäftigung mit ihm zu befördern.
Der Sammelband bietet eine Vielzahl neuer Informationen und zur Diskussion anregender Gewichtungen. So wäre es sicher ertragreich, wie Galster einer Anregung Michelle Perrots folgend anmerkt, die Wechselbeziehungen zwischen französischem und amerikanischem Feminismus zur Zeit Beauvoirs genauer zu untersuchen oder den Gründen für die Gleichzeitigkeit bei der Entstehung der Grundthesen des Existentialismus bei Sartre und Merleau-Ponty und ihrer Reflexion bei Beauvoir nachzugehen. Manches könnte auch zum Widerspruch reizen, so Galsters kategorische Abwertung Beauvoirs als Schriftstellerin, die für einzelne Texte gerechtfertigt sein mag, aber mit Sicherheit nicht für alle. Mit ihrer Ablehnung dessen, was die Verfasserin als "spéculation théorique arbitraire" bezeichnet und worin sich ihre Aversion vor allem gegenüber postmodernen Theorien verbirgt, kann sich Ingrid Galster auf die Autorin des "Deuxième sexe" selbst berufen, die poststrukturalistische Konzepte der Subjektbildung zurückwies. Allerdings fallen unter dieses Verdikt dann auch so interessante Neuansätze wie zum Beispiel die von Galster heftig kritisierte Biographie "Toril Mois". Vielleicht, so muss man jedoch einräumen, ist ihre Position in dieser Frage heute durchaus anschlussfähig wenn man die zum Beispiel von der amerikanischen Beauvoir-Spezialistin Sonia Kruks postulierte neue Sicht auf deren Philosophie jenseits des Poststrukturalismus betrachtet.
Doris Ruhe

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