Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik 1870-1940

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Engels, Jens Ivo
2007, Böhlau/UTB, ISBN10: 3825229629

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Rezension / Compte rendu:
Vorzüglicher Überblick

Den Langlebigkeitsrekord politischer Systeme seit 1789 hält mit knapp 70 Jahren die III. französische Republik zwischen 1870 und 1940. Dass das langfristige Überdauern Anfang September 1870, als die Republik zwar proklamiert, aber nicht ansatzweise etabliert war, noch in den Sternen stand, verdeutlichen schon die ersten Seiten des Handbuchs von Jens Ivo Engels.
Auf einen prägnanten ereignisgeschichtlichen Überblick folgen Darlegungen zur Funktionsweise der politischen Ordnung und Elitenrekrutierung, zum Erfolg der Republik durch das Einüben politischer Praktiken und das Verinnerlichen eines symbol- und wertebehafteten republikanischen Modells, schließlich zu den Regimegegnern auf der Linken und Rechten des politischen Spektrums. Überzeugend gelingt es herauszuarbeiten, warum Republik in Frankreich mehr meinte, als nur das Gegenstück zu Monarchie, mehr als nur ein rechtsverbindliches staatsorganisatorisches Gefüge, nämlich eine hart erkämpfte Errungenschaft, die viele Opfer gekostet hat, die mehrerer Anläufe bedurfte, die erst seit den späten 1870er Jahren gegen zahlreiche Widerstände auf Dauer gesichert werden konnte, als das republikanische Modell die Köpfe und Herzen breitester Bevölkerungsschichten eroberte. Angesichts der gewaltigen sozioökonomischen und mentalen Belastungen, die der Erste Weltkrieg für die Jahre nach 1918 mit sich brachte, nimmt Gesellschaftliches und Wirtschaftliches im letzten Hauptteil vergleichsweise breiten Raum ein. Deutlich wird, dass mancher Pfeiler des klassischen republikanischen Modells Ende der 1930er Jahre längst angekratzt war. Deutlich wird aber auch, dass eine mehrheitsfähige Alternative nicht existierte und dass es letztlich des militärischen Debakels von 1940 bedurfte, um das "alte Regime" aus den Angeln zu heben und denjenigen zur Macht zu verhelfen, die bereit waren, unter den Augen der deutschen Besatzungsmacht die politisch-systemischen Uhren der Nation zurückzudrehen und ein antirepublikanisches Polit- und Gesellschaftsprojekt zu realisieren.
Jens Ivo Engels schildert all dies anschaulich, zuverlässig und mit klarem Blick für maßgebliche Forschungskontroversen. Umsichtig werden die verschiedenen Positionen und Argumente auf den Punkt gebracht, meist verbunden mit eigenen, durchweg differenzierten Einschätzungen. Bedauerlich nur, dass die Kontroversen "namenlos" und die Protagonisten unbekannt bleiben, was Lesern mit begrenzten Vorkenntnissen die Chance nimmt, sich anhand der Originaltexte weiter damit auseinanderzusetzen. Auch das mehr als lobenswerte Integrieren jüngerer Forschungsthemen oder das Hervorheben forschungsprägender Begrifflichkeiten bleibt ein "namenloses" und "fußnotenresistentes" Unterfangen, was wohl eher dem Verlagskonzept geschuldet als dem Autor anzulasten ist.
Ansonsten lässt das Bändchen wenig zu wünschen übrig. Hier und da wären systematischere Erklärungsversuche durchaus willkommen gewesen, zum Beispiel für die zeitverzögerte Gründung moderner französischer Parteien verglichen mit deutschen. Gern hätten die Ausführungen zu kulturellen Angeboten und Aktivitäten, deren Verbreitung und Aneignung breiter ausfallen dürfen. Die wenigen Zeilen für die Zeit vor 1914 und die wenigen Seiten für die Zeit danach vermitteln keine angemessene Vorstellung einer III. Republik, die doch die ersten Schübe hin zum Durchbruch der Populärkultur erlebte mit all dem, was dies an gesellschaftlichen Öffnungs-, Demokratisierungs-, Nationalisierungs- und Politisierungstrends nach sich zog. Gern auch hätte das Zweite Kaiserreich hier und da zusätzlich Erwähnung finden dürfen. Niemand wird der III. Republik das flächendeckende Implementieren einer Wertetrilogie aus Nation, Staat und Demokratie streitig machen wollen. Dennoch sind gewisse Trends kultureller Nationsbildung, ländlicher Politisierung oder staatsbürgerlich-demokratischer Initiierung und Familiarisierung, die sich die Republikaner später auf die Fahnen schrieben, vor 1870 rückzudatieren und legen ein gewisses Aufweichen klassischer Regimegrenzen und -konnotationen nahe.
Besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Leser über den ereignisgeschichtlichen Rahmen hinaus mit spannenden Interpretations- und Erklärungsansätzen konfrontiert werden. Alles in allem hat Engels einen vorzüglichen Überblick vorgelegt, dem für den deutschsprachigen Raum der Status einer Standardlektüre gebührt. Das Bändchen stellt eine wirkliche Bereicherung des weiterhin sehr engen Marktes für deutsche Handbücher zur neueren und neuesten französischen Geschichte dar.
Dietmar Hüser

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Kleine Geschichte der Dritten französischen Republik 1870-1940