Das Abendreich

Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Dieter Hornig

Autor/Hrsg Auteur/Editeur: Gracq, Julien
2017, Droschl, Graz und Wien, ISBN10: 3854209878

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Dieses Buch wurde rezensiert in der Ausgabe: Dokumente/Documents 3/2017 

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Rezension / Compte rendu:
Statische Spannung
Das Abendreich (Originaltitel: Les Terres du Couchant, 2014) ist ein unvollendeter Roman aus dem Nachlass des 2007 verstorbenen Julien Gracq. Er schrieb ihn im Jahr 1953, nahm das unfertige Skript indes später nicht nochmals auf, um es zu beenden. Zeitlich positioniert es sich zwischen seinem berühmten Rivages des Syrtes (1951) und dem Nachfolgeroman Balcon en forêt (1958). Die Ähnlichkeiten zu beiden Büchern sind auch thematisch auffallend.
Das Königreich Alt-Brega ist an seinen Grenzen bedroht. Invasionswellen der "angarianischen Armee" waren schon öfters ins Reich eingedrungen, doch nie sollte es wirklich ernst werden für die Menschen dort, jedwede Gefahr von außen schien eher diffus oder opak. Nun verdichten sich auf einmal die Anzeichen einer Invasion. Von Angst oder gar Panik bei den Bewohnern kann freilich keine Rede sein, im Gegenteil scheint, ähnlich wie im Ufer der Syrten (oder auch in Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen), eine seltsame Lethargie, eine Art passiver Todestrieb, von allen Beteiligten Besitz genommen zu haben. Berichtet wird von einer "Erschlaffung der Einbildungskraft und des Willens", und selbst der Ich-Erzähler präsentiert sich in fast schon prätentiöser Gelassenheit; er untermauert es, indem er sehr viel Zeit und viele Zeilen darauf verwendet, Außenerscheinungen, Naturphänomene, zu beschreiben.
Dieser Erzähler ist Mitarbeiter in der Katasterkammer der Stadt, er macht sich zu Pferde und mit einem Gefährten auf zu den Rändern des Reiches. Es heißt, es müssten Vorkehrungen für die anstehende Auseinandersetzung getroffen, Rüstungen besorgt, Übungen abgehalten werden. Geheimnisvolles Geraune, wonach die Gefahr greifbar, die Straße unsicher sei, greift weiter um sich. An einer Grenzmauer kommt es bereits zu kleineren Scharmützeln, doch tatsächlich wirkt der ganze Ablauf wie eine einzige kontrollierte Verzögerung. Bilder von niedergebrannten Bauernhöfen, auch von Plünderung, mehren sich. Der Blick des Erzählers bleibt weiterhin eigentümlich dezentral; noch immer verwendet er, wie als triumphierender Kontrast zur anwachsenden Spannung, viel Zeit darauf, jene Dinge minutiös darzustellen, die sich in seiner unmittelbaren Umgebung präsentieren. Der Schlag erfolgt jäh mit einer stürmenden Kavallerie, einem nachfolgenden "Feuerorgasmus" und zahlreichen Toten. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als wolle die gegnerische Artillerie der Stadt den Todesstoß geben, doch tatsächlich findet dieser finale Schlag gar nicht statt, alles mündet vielmehr in "eine neue Jahreszeit der Belagerung". Die Bilanz der Auseinandersetzung, so heißt es, lässt "keinen Raum für Hoffnung". Dies ist allerdings die knapp eingestreute Meinung des Erzählers; vom konkreten Schicksal der Menschen von Alt-Brega erfährt man nichts, Gracq scheint, soweit dieses Fragment diesen Schluss zulässt, daran nicht besonders interessiert gewesen zu sein. Die Geschichte bleibt offen, man erfährt noch, die Stadt sei "blutleer", keine Spur von Besatzern oder Siegern. Eine gewisse Normalität scheint wieder an der Tagesordnung zu sein, abzulesen daran, dass der Handel unter den Bewohnern bald schon wieder im Gange ist.
Eine zeitliche Zuordnung in eine konkrete historische Epoche ist zweifelsfrei kaum zu bewerkstelligen, Elemente des Mittelalters wechseln mit Insignien der Moderne. Trotz seiner Unabgeschlossenheit liest man diesen über weite Passagen unheimlich wirkenden Roman dennoch mit Gewinn. Zur anspruchsvollen, lohnenden Lektüre wird er nicht zuletzt dank der sehr feinsinnigen Übersetzung Dieter Hornigs.
Thomas Laux

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Das Abendreich