Spiel ohne Grenzen? – Europa und seine Nachbarn
Vor 60 Jahren wurde die Nordatlantische Allianz zwischen den nordamerikanischen und den westeuropäischen Staaten gegründet. Gefeiert wurde Anfang April in zwei Grenzstädten, in Straßburg und Kehl – das offizielle und symbolträchtige Erinnerungsfoto entstand über dem Rhein auf der Fußgängerbrücke, die Frankreich und Deutschland verbindet. Die anwesenden Staats- und Regierungschefs schwebten sozusagen über einer unsichtbar gewordenen Grenze, über einem Fluss, dessen Bedeutung für die Geschichte Europas in allen Schulbüchern erwähnt wird. Heute kennt Europa in der Tat (fast) keine Grenzen mehr, zumindest innerhalb der Union. Natürlich stimmt das nicht ganz, denn die Staaten behalten auch beim besten Einheitswillen nationale Konturen. Wenn die Grenzen tatsächlich endgültig gefallen wären, müssten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für sich selbst den Begriff Ausland neu definieren, bei den Beziehungen zu den 26 anderen Ländern wäre der jeweilige Außenminister nicht mehr zuständig und sein Europaminister könnte sich eher als europäischer Innenminister präsentieren. Soweit ist Europa noch nicht. Trotzdem: Die Europäische Union ist eine Realität. Nicht nur der Begriff Ausland muss neu definiert werden, auch der Nachbar wird heute anders wahrgenommen als früher. Nachbarhaus, Nachbardorf, Nachbarstadt, Nachbarland sind in Zeiten von Städtefreundschaften und Globalisierung „provinzielle“ Begriffe. Nachbar, so die etymologische Bedeutung, ist zusammengesetzt aus den Wörtern nah und Bauer und bedeutete ursprünglich „nahebei Wohnender“. Das entsprechende französische Wort voisin kommt aus dem Lateinischen und hat mit einem Dorf beziehungsweise einem Stadtviertel zu tun. Beide Begriffe stammen aus der Zeit, als die Menschen Häuser bauten, die zu Siedlungen, zu Dörfern, zu Städten wurden. Im heutigen „globalen Dorf“ Erde mit immer schnelleren Kommunikationswegen verschwinden allmählich die bisher unüberwindbaren Grenzen. Was übrig bleibt, sind so etwas wie leichte Gartenzäune, mit denen sich jeder bei aller Weltoffenheit sein gemütliches Zuhause sichern kann. Deutschland und Frankreich bleiben zwar auch ohne sichtbare Grenzen Nachbarn, die ihre Zusammenarbeit trotz manch unterschiedlicher Meinungen historisch beispielhaft gestalten, aber beide Länder haben innerhalb der Europäischen Union längst eine andere Aufgabe – sie sollen nun an den neuen Grenzen Europas nicht nur mit einzelnen Ländern, sondern auch mit den jeweiligen Bündnissen Nachbarschaftsgefühle wecken und entwickeln. Zugegeben: Finnland wird Marokko nicht unbedingt als Nachbarn empfinden, Portugal die Ukraine ebenfalls nicht. Aber Finnland und Portugal als Mitgliedstaaten der Union können, genauso wie die Gründungsmitglieder Frankreich und Deutschland, ihre Zugehörigkeit zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Familienkreis dadurch beweisen, dass sie den Begriff Nachbarschaft ausweiten – auf die Länder im Mittelmeerraum, auf die Staaten im Osten des Kontinentes und auf den Balkan in Südosteuropa, ohne dabei die Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Südamerika zu vergessen. Ein Spiel ohne Grenzen, Europa öffnet seine Tore: Dokumente und Documents bieten ein gemeinsames Dossier über Nachbarschaftspolitik an und wollen dabei auch die deutsch-französische Partnerschaft unterstreichen – nicht als Modell, sondern als Erfahrung. Erfahrung hat sicherlich mit Vergangenheit zu tun: Wie man die eigene Geschichte verarbeitet und bewältigt, wie man sie in Filmen und Romanen, in Ausstellungen und wissenschaftlichen Analysen umsetzt. Aber Erfahrung ist auch Gegenwart: Wie man in diesem globalen Dorf die Krise bewältigt, wie man gemeinsam nach Lösungen sucht (oder eben nicht), wie man mit innovativen Gesetzen Umwelt, Gesundheit und Wohlstand sichert, wie man mit direkten und entfernten Nachbarn umgeht.
Gérard Foussier
Chronologie/Chronologie
Inhalt/Sommaire
Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen im Elsass