Dokumente 2/2009
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Spiel ohne Grenzen? – Europa und seine Nachbarn

Vor 60 Jahren wurde die Nordatlantische Allianz zwischen den nordamerikanischen und den westeuropäischen Staaten gegründet. Gefeiert wurde Anfang April in zwei Grenzstädten, in Straßburg und Kehl – das offizielle und symbolträchtige Erinnerungsfoto entstand über dem Rhein auf der Fußgängerbrücke, die Frankreich und Deutschland verbindet. Die anwesenden Staats- und Regierungschefs schwebten sozusagen über einer unsichtbar gewordenen Grenze, über einem Fluss, dessen Bedeutung für die Geschichte Europas in allen Schulbüchern erwähnt wird. Heute kennt Europa in der Tat (fast) keine Grenzen mehr, zumindest innerhalb der Union. Natürlich stimmt das nicht ganz, denn die Staaten behalten auch beim besten Einheitswillen nationale Konturen. Wenn die Grenzen tatsächlich endgültig gefallen wären, müssten die Mitgliedstaaten der Europäischen Union für sich selbst den Begriff Ausland neu definieren, bei den Beziehungen zu den 26 anderen Ländern wäre der jeweilige Außenminister nicht mehr zuständig und sein Europaminister könnte sich eher als europäischer Innenminister präsentieren. Soweit ist Europa noch nicht. Trotzdem: Die Europäische Union ist eine Realität. Nicht nur der Begriff Ausland muss neu definiert werden, auch der Nachbar wird heute anders wahrgenommen als früher. Nachbarhaus, Nachbardorf, Nachbarstadt, Nachbarland sind in Zeiten von Städtefreundschaften und Globalisierung „provinzielle“ Begriffe. Nachbar, so die etymologische Bedeutung, ist zusammengesetzt aus den Wörtern nah und Bauer und bedeutete ursprünglich „nahebei Wohnender“. Das entsprechende französische Wort voisin kommt aus dem Lateinischen und hat mit einem Dorf beziehungsweise einem Stadtviertel zu tun. Beide Begriffe stammen aus der Zeit, als die Menschen Häuser bauten, die zu Siedlungen, zu Dörfern, zu Städten wurden. Im heutigen „globalen Dorf“ Erde mit immer schnelleren Kommunikationswegen verschwinden allmählich die bisher unüberwindbaren Grenzen. Was übrig bleibt, sind so etwas wie leichte Gartenzäune, mit denen sich jeder bei aller Weltoffenheit sein gemütliches Zuhause sichern kann. Deutschland und Frankreich bleiben zwar auch ohne sichtbare Grenzen Nachbarn, die ihre Zusammenarbeit trotz manch unterschiedlicher Meinungen historisch beispielhaft gestalten, aber beide Länder haben innerhalb der Europäischen Union längst eine andere Aufgabe – sie sollen nun an den neuen Grenzen Europas nicht nur mit einzelnen Ländern, sondern auch mit den jeweiligen Bündnissen Nachbarschaftsgefühle wecken und entwickeln. Zugegeben: Finnland wird Marokko nicht unbedingt als Nachbarn empfinden, Portugal die Ukraine ebenfalls nicht. Aber Finnland und Portugal als Mitgliedstaaten der Union können, genauso wie die Gründungsmitglieder Frankreich und Deutschland, ihre Zugehörigkeit zu einem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Familienkreis dadurch beweisen, dass sie den Begriff Nachbarschaft ausweiten – auf die Länder im Mittelmeerraum, auf die Staaten im Osten des Kontinentes und auf den Balkan in Südosteuropa, ohne dabei die Entwicklungsländer in Afrika, Asien und Südamerika zu vergessen. Ein Spiel ohne Grenzen, Europa öffnet seine Tore: Dokumente und Documents bieten ein gemeinsames Dossier über Nachbarschaftspolitik an und wollen dabei auch die deutsch-französische Partnerschaft unterstreichen – nicht als Modell, sondern als Erfahrung. Erfahrung hat sicherlich mit Vergangenheit zu tun: Wie man die eigene Geschichte verarbeitet und bewältigt, wie man sie in Filmen und Romanen, in Ausstellungen und wissenschaftlichen Analysen umsetzt. Aber Erfahrung ist auch Gegenwart: Wie man in diesem globalen Dorf die Krise bewältigt, wie man gemeinsam nach Lösungen sucht (oder eben nicht), wie man mit innovativen Gesetzen Umwelt, Gesundheit und Wohlstand sichert, wie man mit direkten und entfernten Nachbarn umgeht.

Gérard Foussier

Chronologie/Chronologie
 
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Inhalt/Sommaire
 
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Autor/Auteur
Thema/Thématique
PDF
Gérard Foussier
Editorial
Editorial 
 
Meinung
Ulrike Knotz / Bernard Valero
Nützliche Taten
Nützliche Taten 
 
Politik / Wirtschaft
Siegfried Forster
Brainstorming gegen die Krise
Die „Generalstände“ der Presse
Brainstorming gegen die Krise 
Christoph I. Barmeyer
Blaue Banane und Rote Banane
Die deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen im Elsass
Blaue Banane und Rote Banane 
Suzanne Krause
Trübsal und Tohuwabohu
Die Nichtraucherschutzgesetze links und rechts des Rheins
Trübsal und Tohuwabohu 
 
Dossier: Nachbarschaften
François Talcy
Offene Türen
Nachbarschaftspolitik: ein Europa mit flexiblen Parametern
Offene Türen 
Thomas Siemes
"Mare nostrum"?
Frankreich, die EU und die Union für das Mittelmeer
 
Emily Calaminus
Verwundbar in Zeiten der Krise
Wer hilft den Schwellen- und Entwicklungsländern?
Verwundbar in Zeiten der Krise 
Frank Morawietz
Gemeinsam Europa gestalten
Projektbeispiele des DFJW in Südosteuropa
Gemeinsam Europa gestalten 
Nikolas Moll
Motivation statt Modell
Die deutsch-französische Aussöhnung und die Balkanländer
Motivation statt Modell 
Gérard Foussier
Eindrücke aus den Balkanländern
Frankreich und Deutschland in Südosteuropa
Eindrücke aus den Balkanländern 
 
Stichwort
Gérard Foussier
Humour
Humour 
 
Gesellschaft / Geschichte
Aude Delsescau
Etappen der Erinnerungsarbeit
Frankreich und Deutschland im Umgang mit der Shoah
Etappen der Erinnerungsarbeit 
Jean-Jacques Gauthé
Ein langer Weg ...
Katholische Pfadfinder als Pioniere der Aussöhnung
Ein langer Weg ... 
Jérôme Pascal
Zum Wohl!
Die deutsch-französischen Vorfahren des Champagners
Zum Wohl! 
 
Kultur
Siegfried Forster
Kultur-Spektrum
Kultur-Spektrum 
Silke Stammer
Kultur-Vorschau: Frankreich in Deutschland
Kultur-Vorschau: Frankreich in Deutschland 
Gérard Foussier
Geteiltes Echo, laute Begleitmusik
„Operation Walküre“ in der französischen Presse
Geteiltes Echo, laute Begleitmusik 
Hans-Jürgen Lüsebrink
"A chacun ses étrangers?"
Bilder von den Anderen in Frankreich und Deutschland
 
Medard Ritzenhofen
Die Außenseiter im Roman
Erfolge der Banlieue-Literatur
Die Außenseiter im Roman 
 
Andererseits
Sébastien Vannier
Visite guidée. Vingt ans après: sur les traces du Mur
Visite guidée. Vingt ans après: sur les traces du Mur 
 
Rezensionen
Rezensionen 
Gérard Foussier
Lutz-Philipp Harbaum, Pariser Dilemmata im Prozess der deutschen Wiedervereinigung
Horst Schmidt
Gustav Seibt, Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung
Wolf Scheller
Jean-Yves Tadié, Marcel Proust. Biographie
 
Karen Denni, Rheinüberschreitungen – Grenzüberwindungen
Clemens Klünemann
Simon Epstein, Un paradoxe français. Antiracistes dans la Collaboration, antisémites dans la Résistance
 
Tristan Storme, Carl Schmitt et le marcionisme
 
Chronologie
Katrin Sold
Januar / Februar 2009
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